Die alte Backsteinkirche mit den Schindeln auf dem Dach, dem weißen Kiesweg davor und dem kleinen Kreuz auf der Kirchturmspitze bildete den Mittelpunkt des Platzes. Die Kirchturmuhr war vor zwei Jahr plötzlich stehen geblieben, nachdem der Blitz dort einschlug. Für die Reparatur war im Moment kein Geld übrig. Die neue Kirchenglocke musste erst noch abbezahlt werden. Der Pastor, der Sparfuchs, ließ sich das Altmetall der alten Glocke zwar gegenrechnen, aber es blieb noch ein Rest übrig, den die Gemeinde durch Spenden aufbringen musste. Er wollte die Tottenbütteler für eine neue Uhr nicht schon wieder schröpfen.
Es gab damals einen riesigen Menschenauflauf, als die neue Glocke mit dem Krahn vom Tieflader gewuchtet wurde. Nicht nur ganz Tottenbüttel war kollektiv erschienen, auch viele Gaffer aus Brunksdorf waren vor Ort. Das Regionalfernsehen ließ sich dieses Spektakel ebenso wenig entgehen und berichtete in ihren Landesprogrammen von dieser Aktion. Printmedien wie die ›Shz‹ , aber auch das regionale ›Käseblatt‹ hatten endlich mal wieder einen interessanten Artikel zu schreiben. Es wurden sogar Interviews geführt. Dafür wurden herumlungernde Bürger willkürlich aus der Menge gegriffen. Am Abend, beim ›Public Viewing‹ in der Dorfkneipe, war der eine oder andere beleidigt, dass man seine Stellungnahme herausgeschnitten hatte.
Schmale Straßen gingen von der Kirche sternförmig auseinander. Eigentlich waren es nur zwei Straßen, die von der Kirche abgingen. Hier befanden sich kleine, nicht nennenswerte Geschäfte. Aber auch die Apotheke, der Friseur Salon von Frau Gustafsson, die hiesige Polizeiwache und ein Stückchen weiter, schräg gegenüber, die Kneipe. Vera Büntes Tante-Emma-Laden lag um die Ecke in einer Nebenstraße und doch strategisch günstig.
Nicht nur der Laden befand sich dort im Parterre eines vier-stöckigen Rotklinkerhaus, auch sie selbst wohnte gleich darüber auf der ersten Etage. Damit war sie natürlich für Tottenbüttels Bewohner permanent erreichbar. Denn dort, wo man früher schon mal bei seinem Nachbarn klingelte, um sich Zucker, Milch oder Salz auszuleihen, musste nun Vera Bünte herhalten. Am Wochenende war das häufiger der Fall. In der Vergangenheit kam es auch schon mal vor, dass sie nachts rausgeklingelt wurde. Doch den Fehler machte man nur ein einziges Mal.
In der Vergangenheit gab es hin und wieder Ärger, weil sich die alte Bewohnerin aus dem vierten Stock über Vera mehrfach beschwerte, dass am Wochenende die Gehwege zugeparkt waren, wenn es in der Kneipe wieder hoch her ging, und sich die Betrunkenen mitten in der Nacht laut grölend auf die Suche nach ihrem Fahrzeug machten. Die Anzeigen gegen die Kneipe häuften sich. »Parkt bitte in Zukunft nicht mehr um die Ecke vor Veras Laden, sonst machen die noch meine Kneipe dicht. Die Anweisung kommt von ganz oben«. Dabei zeigte der Wirt mit dem Finger mehrfach Richtung Decke. Die gemobbten Gäste schauten betreten. Natürlich hatte das ›von ganz oben‹ nichts mit Politik oder Gott zu tun, sondern mit dem Drachen aus dem Dachgeschoss. Irgendwann wurde sie, mit den Füßen zuerst, aus ihrer Wohnung getragen. Niemand wusste warum. Aber von da an war Ruhe. Man parkte wieder um die Ecke.
Die Dorfkneipe ›Bei Kuddel‹ sorgte für willkommene Abwechslung. Dort trafen sich die Bewohner regelmäßig um sich auszutauschen, Skat zu kloppen und das eine oder andere Bierchen zu trinken – auch schon mal um die Mittagszeit. Es existierte auch eine kleine Speisekarte. Neben Käse-, Salami- und Schmalzstullen, gab es so vielfältige Angebote wie: Currywurst mit Pommes, Frikadellen und Würstchen – wahlweise mit Kartoffelsalat. Und für den kleinen Hunger lockten Tomaten- und Gulaschsuppe. Es war sogar möglich, sich aus dem ganzen Sortiment ein Menü zusammenstellen zu lassen.
Ein weiterer Höhepunkt war das jährliche Schützenfest – das gesellschaftliche Ereignis – Weihnachten mal nicht mitgerechnet. Dann wurde das offizielle Saufen eröffnet. Nach diesem Wochenende der Entgleisungen und Fehltritte waren sämtliche Erinnerungen von der Festplatte gelöscht. Allerdings holten diese den einen oder anderen männlichen Dorfbewohner schnell wieder ein, wenn nämlich die frohen Botschaften ins Dorf getragen wurden, dass neun Monate später neue Dorfbewohner dazu kommen würden. Doch ohne diesen, meist ungewollten Zuwachs, wäre Tottenbüttel schon lange von der Landkarte verschwunden, futsch, ausgestorben.
Am nächsten Tag, es war ein Freitag der Dreizehnte, wurde die abendliche Stille jä durchbrochen! Dass es sich an diesem Tag um den dreizehnten handelte, spielte eine sehr untergeordnete Rolle und war reiner Zufall. Die Tür zur Dorfkneipe wurde mit lautem Krachen aufgerissen. Gleichzeitig wehte der draußen einsetzende Herbst-Sturm die ersten Blätter hinein. Um diese Zeit, es war wohl so gegen 17 Uhr und vielleicht 2 Minuten, war hier in der Kneipe schon viel los. Der Wirt war am Zapfen im Akkord. Am Stammtisch gleich neben der Tür, wirbelten die Skatkarten wild durcheinander. Hier traf sich allabendlich eine illustre Runde, die sich sofort laut fluchend auf die Karten warf, in der Hoffnung, ihren ›Stich‹ zu retten. Immerhin ging es um nicht unerhebliche Geldeinsätze. Vor allem der Bürgermeister, ein As (ein Aas) im Bluffen, trieb diese stetig in die Höhe. Alle Gäste starrten zur Tür. In einer Art ›Blaumann‹, der augenscheinlich noch nie gewaschen wurde, und mit matschigen Gummistiefeln, stand dort extrem aufgeregt ein kleiner, pausbäckiger Mann mit dickem Bauch – Bauer Werner Jensen. Er war schon wieder mit einer Mistgabel bewaffnet. Das Wetter draußen wurde hörbar schlechter. Zum Sturm gesellte sich jetzt auch noch Gewitter.
Jensen stand immer noch an der geöffneten Tür, als es hinter ihm grell aufblitzte und einen unheimlichen und skurrilen Schatten seiner Körper-Masse samt Mistgabel in den Raum warf. Der darauf folgende Donner tat das Übrige. Richtig gruselig war das und für einige Gäste Grund genug, spontan zu zahlen und das Lokal fluchtartig zu verlassen. Kuddel, der Wirt von ›Bei Kuddel‹ (einfach, aber schlüssig) schimpfte laut, als sich Jensen auf den Weg von der Tür hinüber zum Stammtisch machte – samt Arbeitskleidung, Matschstiefeln und Mistgabel. Bei jedem Schritt machten die Stiefel diese Schmatz Geräusche, als hätte er eine ›Handbreit Wasser unterm Kiel‹. Seine rote Gesichtsfarbe zeugte von Bluthochdruck oder zu viel Fleisch-Konsum – oder beides. Rot waren auch seine Haare.
»Gesine is wech! Entführt!« keuchte er und baute sich vor Hansen auf. Jensens Kopf hatte Platzreife und Schweiß lief ihm übers Gesicht, den er mit dem Handrücken hastig entfernte. Alle starrten ihn ungläubig an. »Wie, weg. Und wieso kommst du damit zu uns? Du glaubst doch nicht etwa, dass einer von uns ne Kuh klaut! Wozu!?« Bürgermeister Hinnerk Hansen lachte, während er seine Karten in der Hand erneut auffächerte. Hansen war groß und kräftig, der sein Rest-Haar kreativ von einer Kopfseite über die andere kämmte, um mehr Volumen vorzutäuschen. »Wo kommst du eigentlich her?« Diese Frage war natürlich überflüssig. Es war offensichtlich, dass Jensen direkt von der Weide kam. Ungeduldig und schwer atmend wiederholte er: »Gesine is wech, heute Mittag stand sie noch auf der Weide…jetzt isse futsch!« Der junge Lehrer Nils Klausen mischte sich ein, ein Zugereister aus der Stadt mit sehr aufgeschlossenen Lehrmethoden, die nicht bei allen beliebt waren. Zum Beispiel gab´ s keine Schläge an den Hinterkopf, sondern Klassen-Diskussionsrunde in lockerer Atmosphäre mit anschließender Umarmung. Die meist älteren Tottenbütteler waren der Meinung, dass ein paar Schläge an den Hinterkopf noch niemandem geschadet hätten. Klausen hatte schon zwei Runden verloren und entschied sich deshalb aus dem Spiel auszusteigen. Er widmete nun dem Bauern seine ganze Aufmerksamkeit. »Wie kann sie futsch sein? Ist sie abgehauen oder was? Vielleicht hast du dich ja verzählt.«
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