Dann stieg Maurer Busch ab. Hier war Berlin schon locker geworden. Die Reihen nüchterner fünfstöckiger Mietskasernen an der Straße waren zahnlückig, es gab zwischen ihnen eingeplankte Bauplätze, Holz- und Brikettlager, wüste Schuttansammlungen und auch einmal ein Stück Feld, das missfarben, wie zum Tode verurteilt, unter dem grauen Novemberhimmel dalag. Noch immer sprach Maurer Busch kein Wort zu dem Jungen. Er ging mit demselben geistesabwesenden Schritt und grüßte auch die anderen Maurer nicht, die gleich ihm ihren Baustellen zustrebten. Sie riefen wohl einmal: »Na, Blaumachen alle, Walter?« Aber er starrte halb schräg vor sich auf die Erde und schien sie nicht zu hören.
Sie waren zwei- oder dreimal um eine Ecke gebogen und gingen nun auf einer sandig zerfahrenen Straße, die ungepflastert war. Hier war noch nichts gebaut, es gab Feld, es gab Lauben, es gab Sandgruben, wieder viel Schutt und Müll – und nur gerade vor ihnen gab es einen ganzen großen Häuserblock in allen Stufen der Fertigstellung: halbhoch, hoch und ungedeckt, schon geputzt, mit Fenstern und Türen darin. Ja, es gab sogar schon ein paar jämmerliche Ziehwagen mit den zusammengestoppelten, verbrauchten Möbeln ärmster Leute. In manchen Fenstern glostete die rote Glut der Kokskörbe, die aus den noch feuchten Wänden das Wasser vertreiben sollte. Hier war Buschs Arbeitsstelle. Die anderen Maurer gingen in einen langen Schuppen, um ihre Säcke abzulegen. Busch aber blieb, mit gesenktem Kopf, in der Nähe eines schnurrbärtigen Mannes stehen, der eine ähnliche Joppe wie Karl Siebrecht trug, der also, der Junge erriet es, so etwas wie ein Polier oder Werkführer war. Der Mann sprach mit einem anderen, den eine Peitsche als Fuhrmann auswies. Nun drehte sich der Polier um, und sein Blick fiel auf den geduldig wartenden Busch. »Was, Sie, Busch?« rief er. Busch stand unbewegt.
Der Polier trat hitzig einen Schritt näher. »Sie haben doch wohl Ihre Papiere und Ihr Geld gekriegt, Busch?« rief er. »Machen Sie, daß Sie fortkommen! Für Sie gibt's hier keine Arbeit mehr!« Der Mann stand wie zuvor, mit gesenktem Kopf, den Blick zur Erde. Noch einen Schritt näher rief der Polier: »Ich lasse mich nicht länger von Ihnen an der Nase herumführen, Busch! Ja, das glaube ich, jetzt beißt Sie die Reue! Aber das hilft Ihnen gar nichts – Sie lassen mich doch wieder sitzen, wenn uns die Arbeit am meisten auf den Nägeln brennt!«
Busch hob den Blick, diesen verwaschenen Blick, der nichts zu sehen schien. Da stand er, ein Bild der Kraft, mit einem rötlichen Vollbart, mit der Gesichtsfarbe eines Kindes, hübsch rosa und weiß, und genauso schuldbewußt wie ein Kind. »Sie lassen mich doch wieder sitzen, wenn uns die Arbeit am meisten auf den Nägeln brennt!« hatte der Polier gerufen.
Und »Ja, Herr!« hatte der Maurer Busch – ganz sinnlos – geantwortet.
»Daß Sie das verfluchte Saufen nicht lassen können, Busch!« rief der Polier wieder und trat noch einen Schritt näher an den Mann. »Ein Kerl wie Sie, tüchtig – was könnten Sie für ein Geld machen, wenn Sie richtig arbeiteten! Aber so!« Er sah den wortlos vor ihm Stehenden an. Dann zuckte er die Achseln. »Tut mir leid, Busch, aber ich kann Sie nicht wieder einstellen. Ich bekäme Krach mit dem Chef. Morjen!« Und er wandte sich kurz um und ging auf die Baustelle.
Karl Siebrecht stand einen halben Schritt hinter dem Entlassenen. Einen kurzen Augenblick war der Blick des Poliers auf ihn gefallen, er hatte ihn aber nicht weiter beachtet. Nun kämpften Zorn und Mitleid im Herzen des Jungen. Solche Szenen waren ihm nicht neu. Auch sein Vater hatte auf der Baustelle manchmal einem Faulen oder Trunksüchtigen den Magen reingemacht. Aber es war ein gewaltiger Unterschied, ob man hinter dem Scheltenden oder hinter dem Gescholtenen stand! Hier, angesichts des Baues, auf dem nun schon überall die Maurerhämmer klopften, die Steine auf die Gerüstbretter fielen, die Schaufeln der Mörtelmischer in den schwappenden Kübeln klatschten, hier, angesichts einer Arbeit, die Hunderten ihr Brot gab, aber ihm nicht, ermaß er, wie tief unten er stand, wie hoch er klimmen mußte, wie sich in wenigen Tagen sein Leben von Grund auf verändert hatte.
Der Maurer Busch verharrte noch immer mit gesenktem Kopf. Kein Glied hatte er gerührt, seit der Polier gegangen war. Aber der Junge warf den Kopf zurück, er sah noch einmal auf den Übergeduldigen, dann suchte er auf dem Gerüst mit den Augen den Polier und fing an, die Leitern emporzuklettern. Das konnte er, auf Baugerüsten war er schon als Knirps geklettert, er lief die Leitern hinauf wie nur einer vom Bau, eine Katze konnte nicht schneller und sicherer sein. Der Polier hatte die fremde Gestalt hochkommen sehen. Als Karl Siebrecht noch nicht von der Leiter im vierten Stock war, sagte er schon: »Hat keinen Zweck, Jung. Ich stell deinen Vater doch nicht ein.«
»Aber vielleicht stellen Sie mich ein als Handlanger, ich mache alles!«
»Mit den Händen –?«
»Einmal muß man anfangen. Ich weiß auf 'nem Bau Bescheid.«
»Das habe ich schon an deinem Klettern gesehen. Von wo bist du?«
»Mein Vater war auch – Polier. Er ist tot.«
»Nun mußt du arbeiten? Bist auf die Schule gegangen?«
»Ja.«
»Junge, das ist doch nichts. Geh in irgendein Büro.«
»Irgendwo muß man anfangen! Ich muß Geld verdienen. Lassen Sie mich hier anfangen!«
Der Polier dachte nach: »Wie kommst du zum Busch?«
»Meine Wirtin wohnt im selben Hause. Wir dachten, er könnte mir Arbeit verschaffen.«
Der Polier sah den Jungen noch einmal an, von oben bis unten. Er zögerte sichtlich: »Mit so feinen Jungens macht man immer schlechte Erfahrungen ...«
»Ich bin kein feiner Junge!«
Das Auge des Poliers war, erst unachtsam, auf der manchesternen Hose des Jungen haften geblieben. »An der Hose«, sagte er lächelnd, »sehe ich, du schwindelst nicht. Das ist die Hose von einem Polier.«
»Ja, es ist Vaters Hose.«
»Na also, geh da drüben hin, wo der Umzugwagen vor der Tür hält, ich bin in fünf Minuten da. Aber mehr als zehn Mark gebe ich dir die erste Woche nicht, ich muß erst sehen, was du wert bist.«
Also zehn Mark die Woche bin ich doch schon wert! dachte der Junge und ging an dem Maurer Busch vorbei, der noch immer geduldig, unverändert auf demselben Fleck stand. Es ist vielleicht nicht viel, aber es ist ein Anfang, dachte er. »Er will mich einstellen, Herr Busch«, sagte er im Vorbeigehen.
Der Mann hob den Blick, etwas wie Leben war darin. »Sag der Tochter nischt – von dem hier«, flüsterte er.
»Natürlich nicht, Herr Busch«, antwortete Karl Siebrecht und ging zum Ziehwagen hinüber.
Sie luden einen Schrank, dann eine Kommode ab. Der Junge bekam gleich etwas zum Zufassen. Es war ein Mann, lang, mit hohlen grauen Backen, und ein Weib, das so schwach schien, daß es kaum stehen konnte. Immerzu hustete sie. Die beiden nahmen Karl Siebrechts Hilfe ohne Dank mit einer mürrischen Selbstverständlichkeit hin. Als einmal die Frau, von einem nicht enden wollenden Husten geschüttelt, an die Wand gelehnt dastand, sagte der Mann verbissen: »Det ist nu die neunte Wohnung, die wa trocken wohnen. Ick jloobe nich, det se noch die zehnte mitmacht.«
»Was tun Sie –?« fragte Karl Siebrecht.
»Na wat wohl? Kennste det nich? Det weeßte wohl nich, du mit deine Samtpfoten? Wa wohnen die Wohnungen trocken for die, die Miete zahlen. Dafor blechen wa keene Miete, und die Schwindsucht jibts jratis zu! Det nennt man Trockenmieter – weil wa ewig ins Nasse sitzen!«
»Und das ist erlaubt?!« rief Karl Siebrecht. »Sie gehen doch zugrunde dabei!«
»Meenste?« fragte der Mann, und etwas wie ein grimmiger Spott wurde in seinen grauen, hoffnungslosen Augen wach. »Wenn de nich solche Samtpfoten hättest, Junge, denn wüßtest de, daß unsereenem nur det Krepieren erlaubt ist, sonst nischt! – Na, faß an, det wa den Schrank rinkriegen!«
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