1 ...7 8 9 11 12 13 ...41 Der Junge, Karl Siebrecht, schwieg überwältigt. Ihn packte die nüchterne, klagelose Selbstverständlichkeit, mit der die dreizehnjährige Rieke Busch von dem allem redete. »Und das trägst du alles so selbstverständlich, Rieke?« rief er und legte seine Hand auf der Stange des Karrens sachte über die kleine verarbeitete Kinderhand.
»Wat denn sonst? Wat soll ick denn dabei tun? Det is doch so! Da kann keener wat bei machen! Bloß det eene sare ick dir, Karl: mir soll keener nischt von der Liebe erzählen. Die richt' bloß Unfug an. Wie der Ernst vorhin anfing – na ja, det wissen se alle, ick bin kalt wie 'n Eiszappen!«
»Aber du bist doch auch noch nicht vierzehn, Rieke!« rief Karl Siebrecht.
»Na wat denn? Wat denkste, wat de Mächen hier schon früh rumknutschen? Is det denn bei euch nich so? Biste ehrlich, Karl, haste noch nie een Mächen jeküßt?«
»Doch – aber ...«
»Na siehste! Da gibt's jar keen Aba! Jünger als du wird se wohl jewesen sind! Aba det sare ick dir, hier paß uff! Und wenn de dir doch verknallst, denn komm bei mir! Ick wer' dir schon raten! Die Mächen hier kenn ick, und die anderen Mädchen seh ick mir eenmal an, dann weeß ick Bescheid. Komm man immer bei Rieke, Karl, die hilft dir!«
Karl Siebrecht mußte lachen: »Du redest, Rieke, als wärest du meine Großmutter. Und außerdem werde ich mich hier bestimmt nicht verlieben.«
»Verrede es nich! Du bist een hübscher Junge, und det werden die Mächens hier ooch sehen. Und die in deinem Kaff is weit weg.«
»Ich verliebe mich bestimmt nicht!«
»Wart's ab, Karl, wart's ab!«
Trotzdem die Uhr schon halb elf war, trafen sie den alten Dienstmann doch unruhig vor dem Hause Müllerstraße 87 wartend. »Na, Opa«, sagte Rieke triumphierend, »du hast woll Angst jehabt? Da haste deine Karre. Und siehste, wat ick hier for dir habe: eene Wurscht. Aber keene von Aschinger, denk det bloß nich, die kommt direkt von't Land, di ha' ick dir mitjebracht, Opa!«
»Jott, Mächen«, sagte der Alte ganz gerührt. »Det war ja nu nich nötig jewesen. Jott, riecht die schön! War die im Rooch?«
»Natürlich war die im Rooch, und nich so Kiefernrooch, wie die Schlachter hier machen, nee, richtijen Buchenrooch. Na, nu jute Nacht, Opa!«
»Jute Nacht, Mächen. Dank ooch schön.«
»Nischt zu danken!« rief Rieke schon im Gehen. »Weeßte übahaupt weswegen du de Wurscht jekriegt hast, Opa?«
»Na, von wejen meine Karre doch.«
»Keene Ahnung!« schrie Rieke. »Weil de wie 'n Hund heeßt, und alle Hunde fressen jerne Wurscht!« Sie pfiff durchdringend, dann lockte sie: »Komm, Kieraß, komm, mein Hundeken! Kieraß, kuschste –?« Noch zwei Straßenecken weit hörten sie den Alten lachen. Karl Siebrecht konnte ihn sich recht gut vorstellen, wie er dastand, ausgemergelt und abgearbeitet, seine Wurst in der Hand, an der Schwelle der Siebzig, dankbar für jedes gute Wort.
Es war nach elf Uhr, als sie wieder über die engen, dunklen, riechenden Höfe, diese bloßen Lichtschächte des Hauses, in der Wiesenstraße gingen. In den Fenstern brannte kaum noch Licht, auch die Gasflammen auf der Treppe waren erloschen. Rieke mußte Karl bei der Hand nehmen und ihn im Dunkeln führen; Streichhölzer, sich hinauf zu leuchten, hatte keines von beiden. Dann zog Rieke ihn in die Küche. »Wo is'n Ernst?« fragte sie sofort den großen schweren Mann, der dort bei der kleinen Lampe am Tisch saß, den Kopf in den riesigen Händen. »Ick habe Ernsten doch jesagt, er soll uff mir warten!«
Der Mann hob den Kopf. Karl war erstaunt, einen verhältnismäßig jungen Mann, vielleicht Ende der Dreißig, vor sich zu sehen. Er hatte sich Riekes Vater uralt vorgestellt und fand nun einen kräftigen, fast blühend aussehenden Mann, mit einem rötlichen, kurz gehaltenen Vollbart, einer auffallend zarten, weiß und roten Haut und einer schönen Stirn. Nur die Augen, diese sehr hellen Augen, von einem verwaschenen Blau, wollten ihm nicht gefallen: der Blick, der auf den beiden Kindern ruhte, schien sie nicht zu sehen, er schien fast nichts zu sehen. »Der Ernst?« fragte er. »Der Ernst? Den ha' ick jehen heißen, Tochter, den juckte det Fell! Den zog's weg! Wat soll er hier ooch sitzen? Brooch ick 'nen Wachtposten, Tochter?«
»Nee, Vata, broochste nich!«
»Ick bin nich bei die Schließkörbe jegangen, nee. Ick habe dir 'ne Suppe jekocht. Det Mehl hat mir Ernst noch von de Brommen jeholt, een halbet Pfund, du jibst ihr det wieda, Tochter.«
»Tu ick, Vata. Jleich morgen. Wat denkste, wat ick for feinet Mehl von Tante Bertha im Schließkorb habe, so'n Mehl hat hier nich mal Tamaschke! Vata, det is Karl, Karl Siebrecht, der sucht hier Arbeet in Berlin. Is'n Freund von mir, Vata!«
»Is recht, Tochter. Setze dir, Karl. Wie war'n Tante Bertha?«
»Die war richtig, Vata«, antwortete Rieke, die schon am Herde wirtschaftete. »Die ha' ick abserviert. Wat denkste, wat ich allens im Korbe habe, sogar 'nen janzen Schinken!« Und jetzt strahlte Rieke Busch wirklich voll stolzer Freude.
Busch schien es kaum zu sehen. »Ja, du bist tüchtig, Tochter«, sagte er, immer in der gleichen leidenschaftslosen Sprechweise, die ohne Nachhall schien. Die Worte erloschen gleichsam, sobald sie seinen Mund verließen. »Du bist tüchtig, janz wie Mutta. Mutta war ooch tüchtig, det weeßte, Tochta, det ha' ick dir tausendmal gesagt.«
»Haste, Vata ...«
»Det ha' ick. Ha' ick je ein Wort jejen deine Mutta jesagt, Tochter?«
»Is ja jut, Vata! Ick weeß ja, is ja jut! Biste stille, Vata! Mutta war die beste! – Schläft Tilda?«
»Se schläft, Tochter, ick ha' ihr in meen Bett jepackt. Se wollte so jerne, weil's so scheene warm war. Ick ha's ihr een bißcken zurecht jezogen. Laß ihr drin liejen, Tochter, ick habe meine Tour rum, morjen jeh ick wieda arbeeten.« Die letzten Worte hatte er fast belebt gesprochen, mit einer beinahe ängstlichen Betontheit.
»Is jut, Vata. Det machste, wie de willst. Da kann dir keener Vorschriften machen.«
»Und du reist nich wieda weg? Du bleibst jetzt hier, Tochter?«
»Natürlich, Vata. – Komm, Karl, nu ißte Suppe mit, die is schön heiß. Nachher tuste jleich det nasse Zeug vom Leibe, und wa puppen dich anders in. Mach bloß den Stehkragen los, Karl, du bist ja schon janz wund am Halse. – Vata, weeßte Arbeit for Karle?«
»Det is jut, Tochter«, sagte der Vater, der nichts gehört zu haben schien, »daß de nich wieder weg machst. Ick kann nich alleene sind. Wat heeßt hier Schinken – bei mir sollste sind!«
»Is ja jut, Vata. Wohin soll ick denn noch reisen? Ick bleib nu hier.«
Vater Busch hatte eine Hand gegen seine Wange gelegt, nun hob er die andere und zeigte damit auf Rieke. »Tochter!« rief er fast aufgeregt, in aller Leblosigkeit fast aufgeregt. »Tochter! Sieh mir an!«
»Reje dir nich uff, Vata«, sagte das Mädchen und legte den Löffel aus der Hand. Sie sah den Alten aufmerksam an. »Reje dir nich uff, ick hole dir lieber noch 'ne Pulle. War se so schlimm?«
»Schlimm?« fragte er. »Schlimm? Det nennste schlimm? Tochter, is det wahr, wat mir der Ernst erzählt hat, willste mir mit de Brommen vaheiraten?« Die Hand, die auf die Tochter zeigte, zitterte so sehr, als habe der Mann einen Schüttelfrost, aber der Mann saß unbeweglich wie eine Mauer, nur die Hand bebte.
»Det machste, wie du willst, Vata, es is wahr, ick habe mit der Brommen jeredet. Ihr paßt jut, Vata, und die Brommen is tüchtig. Ick tu, wat ick kann, Vata, aba ne richtije Frau bin ick doch nich, wenn ihr mir alle ooch dafor nehmen tut: ick bin bloß een Kind. Und denn, wenn 'ne Frau hier wäre, könnte ick een bißcken mehr lernen, ick bin zu doof, Vata. – Aber det machste, wie du willst, Vata. Sagste nee, denn Schwamm drüber, weg is et.«
»Sie war bei mir, Tochter«, sagte der Mann, und die Hand bebte immer stärker. »Die janzen Tage war sie bei mir, im Suff. Jetzt weeß ick, warum se's so eifrig hatte, die janzen Tage, wo ick jing und stand, hat se mir über die Schulter jeflüstert: Du sollst bei keinem Weibe schlafen, Vata, hat se jeflüstert Ick ha' ihr nich vastanden, nu versteh ick ihr. Ick bin for ihr ohne Sünde, Tochter, in diesem bin ich ohne Sünde!«
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