»Das sieht ziemlich alt aus. Ich mag das«, antwortete Ullisten etwas peinlich berührt, dass er sich so hatte gehen lassen.
»Ja, manche behaupten es wäre wertvoll, aber mal ehrlich, wer will so ein altes Ding schon haben … außer dir vielleicht. Geht heute doch viel einfacher nach einem Wort zu suchen, als in diesen dünnen Blättern zu wühlen. Mich macht das Gesuche darin verrückt!«
Ullisten steckte das Buch in eine der Gesäßtaschen seiner Hose. Alle anderen Taschen waren voll, da er seinen Mantel und seinen Rucksack heute Morgen mit einem ziemlich schlechten Gefühl im Quartier zurücklassen musste und wenigstens die für ihn wichtigsten Dinge mitgenommen hatte. Dummerweise hatte er nicht alles in der Hose untergebracht, vor allem seine Handfeuerwaffe war zu groß gewesen für die schmalen Taschen an den Beinen. Das ließ sich nun nicht mehr ändern, aber zum Glück konnte ohne seine DNS die Waffe nicht aktiviert werden. Mit diesem Buch hatte er wenigstens die Möglichkeit, seine Sprachkenntnisse zu erweitern und zwei zusätzliche Sprachen im Nullkommanichts zu beherrschen. Er musste es nur einmal durchlesen, was ihn vermutlich einen halben Tag kosten würde. Danach noch ein paarmal schlafen und er würde das Meiste verstehen. Er wünschte er hätte so etwas für die armenische Sprache gehabt. Dann wäre er jetzt schon bedeutend weiter. Außerdem musste er dringend Spanisch lernen, schließlich war er ja Chilene und sollte diese Sprache sprechen. Einer der Punkte, der ganz oben auf seiner To-Do-Liste stand.
»Komm, wir gehen essen. Danach stell ich dich den Fahrern vor.« Tardat Spandarjan ging hinaus und Ullisten folgte ihm, hinüber in das Kantinenzelt.
Das Essen schmeckte ihm zweimal so gut wie gestern. Er schlug sich den Bauch voll, verabschiedete sich von den Männern, mit denen er die letzten zwei Tage zusammengearbeitet hatte und die ihm viel Glück wünschten. Dann ging er zusammen mit Tardat Spandarjan hinüber zu den Lastzügen.
Die Fahrer, die die Sattelschlepper steuerten waren allesamt wild aussehende Burschen. Tardat Spandarjan gab ihnen gerade Anweisungen, als der junge Mann hinzukam, der mit vollem Namen Nando Sahin hieß und sich wie selbstverständlich neben Ullisten stellte. Tardat Spandarjan warf ihm einen kritischen Blick zu und fuhr dann mit seinen Instruktionen fort. Als er fertig war winkte er zwei der Männer heran, die anderen gingen zu ihren Fahrzeugen.
Ullisten musterte die Beiden. Den einen hatte er vorhin schon gesehen, es war der Schnauzbärtige. Der Mann war ein gedrungener Kerl mit einem dicken Bauch, der trotz des scharfen, kalten Windes nur ein Unterhemd über einer schwarzen, abgenutzten Hose trug, aus dem oben schwarze Brusthaare heraushingen. Sein Kopf dagegen wies eine Halbglatze auf. Er hatte ein ziemlich grimmiges Gesicht, das von dem riesigen Schnauzbart unter seiner knubbeligen Nase dominiert wurde und Hände, die wahre Pranken waren. Alles in allem sah er so aus, als wäre nicht gut Kirschenessen mit ihm. Der Zweite war genau das Gegenteil davon. Schmächtig und langgeschossen, mit einer ziemlich scharfkantigen Adlernase, dunklen Augenringen unter tiefbraunen sanft blickenden Augen und einer üppigen kastanienbraunen Haarmähne auf dem Kopf. Er trug einen einfachen Pullover, braune Hosen und sah etwas gepflegter aus, als der Bärtige.
Die beiden Männer musterten Ullisten und Nando Sahin eingehend.
»Habt ihr schon einmal jemanden erschossen?«, grollte der Bärtige.
Nando Sahin wurde bleich. Ullisten hielt sich zurück. Er war Soldat, er hatte getötet und wusste, welchen Preis jeder dafür bezahlte, der das tat. Leben zu nehmen war ein gewalttätiger Akt, der Spuren hinterließ, die einem das ganze Leben lang verfolgen würden.
»Sprecht ihr Arabisch?«
Ullisten Getrillum und Nando Sahin schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Türkisch, Syrisch? Irgendetwas Vernünftiges?« Ein zweifelnder Blick aus zwei dunklen Augenpaaren streifte sie. Tardat Spandarjan hielt sich zurück und beobachtete nur. Die beiden Männer sahen sich genervt an, dann fixierte der Schnauzbärtige den Vorarbeiter mit einem unzufriedenen Blick.
»Hast du nichts Besseres, Tardat?«
Tardat Spandarjan schüttelte den Kopf. »Die Jungs sind zuverlässig und fleißig. Ihr werdet keine Probleme mit ihnen haben.«
»Zuverlässig? Keine Probleme? Du hast keine Ahnung Tardat!« Der Langaufgeschossene hatte eine hohe Fistelstimme, die Ullisten unangenehm durch Mark und Bein ging. Er sprach die armenische Sprache in einem seltsam gedehnten Singsang und war kaum zu verstehen, jedenfalls für Ullisten.
»Ich bin Ibrahim El Aswad. Das ist Özgür Batman. Wie heißt ihr?«, fragte er die Beiden.
»Ich bin Nando Sahin und das ist Ramirez Estar.« Nando Sahin kam Ullisten zuvor.
»Sahin, sagst du? Du siehst nicht aus wie ein Türke«, bemerkte Özgür Batman stirnrunzelnd.
»Meine Mutter war Deutsche, aber mein Vater war Türke.«
»Dann bist du ein Gläubiger?« Nando Sahin nickte zur Bestätigung, aber Ullisten verstand nicht was damit gemeint war.
Özgür Batman wandte sich Ullisten zu und musterte ihn. »Ramirez Estar? Das sagt mir nichts. Wo kommst du her?«
»Chile«, antwortete Ullisten kurz und warf einen langen Blick von oben auf Özgur Batman. Warum war das so wichtig?
»Chile!«, fiepte Ibrahim El Aswad mit überschlagender Stimme. »Beim Propheten, Tardat, ein Christ, noch dazu ein katholischer Christ. Was denkst du dir eigentlich dabei?«
Beide Männer schossen zornige Blicke auf Tardat Spandarjan ab. Der verschränkte gelassen die Arme vor der Brust. »Übertreibt ihr da nicht ein wenig. Ich bin doch auch Christ. Mit mir habt ihr doch auch keine Probleme.«
Özgur Batman atmete tief durch, so als ob er einem Kind zum tausendsten Mal etwas erklären müsste. »Wie oft soll ich dir das noch sagen, wir haben nichts gegen Christen, aber es geht nicht um uns. Du bist Christ in einem christlichen Land. Gut, aber wir fahren in Länder, die viele sehr … streng gläubige Muslime haben, die … sagen wir …, nicht gut zu sprechen sind auf Kreuzzügler.«
Ullisten war gespannt darauf, wie dieser Disput ausging. Er hatte sofort begriffen, dass es hier um religiöse Fragen ging. Es gab auch in der Liga Welten, die tiefreligiös waren und andere Glaubensrichtungen nicht tolerierten. Das war nichts Neues für ihn. In den meisten Fällen, wenn man sich angemessen verhielt, war das entweder doch nicht so schwierig, oder aber, wenn man Pech hatte, konnte das auch tödlich enden, je nachdem, auf wen man gerade traf.
Die beiden Truckerfahrer sahen sich noch einmal an. Özgur Batman seufzte gequält.
»Also gut, weil du ein großer, furchteinflößender Kerl bist. Sobald wir über die Grenze nach Syrien gefahren sind wirst du keinen Ton mehr sagen, egal in welcher Situation und du wirst niemals, wirklich niemals das Wort "Prophet" in den Mund nehmen und dich immer respektvoll verhalten. Ist das klar?«
Özgur Batman sah Ullisten tief in die Augen. Ullisten erwiderte ruhig seinen Blick. Er hatte sowieso nicht vor etwas zu sagen, aber ein klein wenig beunruhigte ihn es nun doch, da er nicht wusste worauf er sich tatsächlich eingelassen hatte. Er würde es bald erfahren.
Der "Boss" war sauer wie schon lange nicht mehr. Nicht nur, dass die Hälfte seiner Produktionshalle eingestürzt war, der Kerl, der das verursacht hatte, war ihnen auch noch entkommen und in ein paar Minuten würde vermutlich der Polizeichef der örtlichen Miliz bei ihm anrufen, um zu erfahren, was hier los war. Ganz zu schweigen davon, dass die Presse mit Sicherheit bereits Wind von der Sache bekommen hatte und das Unglück zu einem willkommenen Anlass nehmen würde, ihren örtlichen langweiligen Käseblättern eine Sensationsstory einzuverleiben.
»Christos«, schrie er über das Chaos hinweg seinem persönlichen Assistenten zu, »bring mir den Kerl, tot oder lebendig, ist mir egal. Ich will ihn haben! Sofort!«
Читать дальше