Ihre wenigen Habseligkeiten hatte sie bereits gepackt, aber sie war ziemlich verärgert über das Verhalten ihrer alten Kumpane, obwohl es sie nicht wirklich überrascht hatte, wenn sie eine Weile darüber nachdachte. Aber es machte sie wütend, denn endlich einmal hatte sie die Gelegenheit in einem modernen und eleganten Hotel abzusteigen und dann verpatzten die ihr ihren Aufenthalt hier. Nicht einmal ein Bad hatte sie nehmen können, dabei war die Badewanne wirklich groß und mit einer Massageanlage ausgestattet. Sehnsüchtig warf sie noch einmal einen Blick in das geräumige Badezimmer, spielte kurz mit dem Gedanken, vielleicht doch noch schnell hineinzuspringen, ließ es aber dann sein. Das war das Risiko nicht wert. Kritisch sah sie sich um, aber sie hatte nichts liegen lassen und auch ihre Fingerabdrücke entfernt. Rasch entsicherte sie ihre Waffe, stellte ihre Tasche neben die Eingangstüre und schaltete das Licht im Zimmer aus. Sie wartete bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann öffnete sie leise die Tür. Wie sie erwartet hatte, wurde sie zurückgestoßen. Sie tat so, als wäre sie überrascht und stolperte rückwärts zurück in das Zimmer. Ihr Bewacher schob sich mit einem hämischen Grinsen herein, schloss die Tür und versuchte das Licht einzuschalten, begriff aber sofort, dass der Bewegungssensor ausgeschaltet war. Mit unterdrücktem Fluchen tastete er nach den Lichtschaltern, fand sie aber nicht. Maria Lautner war darauf gefasst gewesen und nutzte den Moment aus den Kerl zu erledigen. Sie schaltete das Licht im Zimmer ein und schoss fast gleichzeitig. Mit ungläubigem Blick griff der Mann sich an den Hals, in dem der gut gezielte Betäubungspfeil steckte. Langsam sank er zu Boden. Maria Lautner sicherte ihre Waffe, stieg über den am Boden liegenden Mann hinweg und steckte ihre Betäubungspistole in die Tasche zurück, aus der sie eine Rolle Klebeband und Kabelbinder herausholte, mit denen sie den Bewusstlosen gekonnt fesselte. Ein Stück des Klebebandes klebte sie über seinen Mund. Sorgsam achtete sie darauf, dass er genug Luft bekam, denn sie wollte nicht daran schuld sein, dass er erstickte. Das Licht im Zimmer knipste sie wieder aus und lehnte die Tür nur an, als sie es verließ. So konnte er sich bemerkbar machen, sobald er wieder wach war, aber das würde erst in ein paar Stunden so weit sein. Das verschaffte ihr hoffentlich genug Zeit, aber der Vorsprung war trotzdem nicht besonders groß, um ihre Spuren zu verwischen. Außerdem musste sie sich ein Versteck in der Nähe suchen, damit sie das Peilsignal des Senders nicht verlor, den sie Ramirez Estar an den Mantel geklebt hatte. Sie konnte es zwar wiederfinden, sollte sie es verlieren, aber es war mühsam, denn dazu musste sie sich bei den Mobilfunkgesellschaften aufschalten und die Gefahr entdeckt zu werden stieg damit erheblich. Es war in jedem Fall besser in der Nähe der Zielperson zu bleiben und den Kontakt nicht zu verlieren.
Mit raschen Schritten eilte sie den Flur hinunter zum Treppenhaus, das in die Tiefgarage führte, wo ihr Wagen stand. Wenige Minuten später fuhr sie aus der Tiefgarage und folgte dem Peilsignal, das sie hinaus zur Zementfabrik führte. Sie wunderte sich, dass der "Boss" nicht mehr Leute auf sie abgestellt hatte, aber es war nirgendwo etwas von ihnen zu sehen. Vielleicht sollte sie die Nachrichten einschalten, oder sich irgendwo eine der gedruckten Zeitungen kaufen. An einem Kiosk hielt sie an und kaufte den Ararat Boten, eine der seriöseren Zeitungen, die in dieser Gegend verlegt wurden. Glücklicherweise gab es hier noch Zeitungen aus Papier, wenn auch horrend teuer, aber sie musste keinen Download dafür durchführen. Sofort fiel ihr Blick auf die Schlagzeile des Tages und die eingestürzte Fabrikhalle. Hastig überflog sie die Zeilen. Wow, da hatte Ramirez Estar aber ganz schön Wirbel gemacht. Jetzt kannte sie den Grund, warum der "Boss" nur einen Mann auf sie angesetzt hatte, aber trotzdem musste sie vorsichtig sein. Er hatte genug Handlanger in der Stadt, die sie vielleicht noch aus alten Tagen kannten. Sie reihte sich in den Verkehr ein und schlug den Weg Richtung Norden, aus dem Stadtzentrum hinaus ein. Es war noch hell, als sie die Gegend erreichte, in der die Zementfabrik lag. Im Hintergrund konnte sie die dunstigen Hänge des 2162 Meter hohen Mount Kotuts erkennen, die jetzt von einer feinen Schicht weißen Schnees bedeckt waren. Der Berg war Teil der Gegham Bergkette, die sich in Höhen bis auf über 3500 Meter aufschwang und meistens die kalten Winde von Norden abhielt, aber heute leider nicht. Das Wetter wurde zunehmend schlechter, grauweiße Schleier fegten in dem eisigen Wind über die brach liegenden Felder und gaben ihnen einen tristen Anstrich. Sie hüllten die Zementfabrik ein und nahmen ihr die Sicht auf das Gelände. Maria Lautner fröstelte und drehte die Heizung in dem Dacia Solitär auf. Zumindest die funktionierte in dem alten Schrotthaufen.
Besorgt betrachtete sie die zunehmend schlechte Wettersituation. Bald würde es dunkel werden und die Straßen vereisen. Mit diesem alten Auto wollte sie da lieber nicht unterwegs sein. Im Winter konnte es verdammt kalt werden in Armenien. Auf der Landstraße waren nur wenige Autos unterwegs, deshalb fiel ihr der schwarze VAN in der Ferne sofort auf.
Der Fahrer des Wagens verhielt sich seltsam, fuhr langsam und blieb oft stehen. Das war mit Sicherheit einer der Leute vom "Boss", denen wollte sie nicht begegnen. Offenbar hatten sie die Spur von Ramirez Estar bereits gefunden. Maria Lautner konnte deutlich den blinkenden Punkt auf ihrem Monitor erkennen, der den Standort des Senders an seinem Mantel anzeigte. Demnach befand sich Ramirez Estar direkt auf dem Fabrikgelände. Offenbar hatte er sich dort versteckt, wie auch immer ihm das gelungen war, aber geschickt war der Mann ja, das traute sie ihm zu. Der VAN kam näher. Besser sie verschwand aus der Gegend, auch wenn es das für sie komplizierter machte. Rasch wendete sie ihr Auto und fuhr zurück zur Schnellstraße.
Der nächste Tag war anstrengender als der Vorangegangene. Die Männer stöhnten und schwitzten unter der Last der Zementsäcke, der stinkende Staub klebte trocken auf der Zunge. » Das ist bestimmt nicht gesund. Wer weiß wie lange die das schon machen «, dachte Ullisten und beobachtete heimlich die Arbeiter, deren Gesichter im Laufe des Tages immer fahler wurden und das nicht nur von dem Zementstaub in der Luft. Manch einer der Männer hustete einen trockenen Husten.
Nach stundenlanger Plackerei waren sie endlich fertig. Müde und abgearbeitet saßen sie zusammen in der Baracke, nachdem sie geduscht und Ullisten seine Kleidung gereinigt hatte und warteten auf Tardat Spandarjan, der das Abendessen organisierte und ihnen ihren Lohn bringen sollte. Es war eine elende Schufterei gewesen, aber sie hatten es geschafft. Sie waren sogar drei Stunden früher fertig geworden, nicht zuletzt, weil Ullisten tatkräftig anpacken konnte. So froh alle darüber waren, so argwöhnisch benahmen sie sich ihm gegenüber. Vielleicht war auch ein klein wenig Neid über die körperlichen Fähigkeiten dieses Fremden dabei.
Tardat Spandarjan kam zurück, einen Stapel Briefumschläge dabei.
»Hier ist euer Lohn.« Er rief sie nacheinander mit Namen auf und gab jedem Tagelöhner seinen Umschlag.
Es klopfte energisch an der dünnen Holztür. Ein Mann mit einem riesigen schwarzen Schnauzbart unter der Nase steckte seinen Kopf herein und nickte Tardat Spandarjan zu. Tardat Spandarjan ging hinaus. Ullisten hörte die Beiden miteinander tuscheln. Irgendetwas war geschehen. Besorgt versuchte er mehr zu verstehen, aber die Männer entfernten sich von der Baracke. Die Jungs, die das nicht die Bohne interessierte, zählten in der Zwischenzeit ihr Geld.
»Nicht viel diesmal, obwohl wir so schnell waren«, sagte einer von den jüngeren Arbeitern.
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