Ullisten wusste nicht, wie der junge Mann hieß, der sich da beschwerte.
»Sei ruhig, wenn du nächstes Mal wieder dabei sein willst.« Grigori Zeytun, einer der Arbeiter, nahm seinen Zahnstocher aus dem Mund, auf dem er schon eine Weile herumgekaut hatte.
Tardat Spandarjan kam zurück. »Ich habe einen Sonderjob für zwei Männer. Ein paar Begleitleute sind ausgefallen. Wer will sich eine Stange Geld verdienen?«
Ullisten sah erstaunt, wie alle die Köpfe einzogen. Was war denn da los? Fragend richtete er seinen Blick auf Tardat Spandarjan.
»Für den Neuen«, damit meinte er ihn, »fünf der Rocky-Mountain-Doubles sind für Akaba in Jordanien bestimmt. Zementtransporte werden in der Regel nicht überfallen, aber manchmal passiert es doch. Kannst du mit einer Waffe umgehen?« Er sah jetzt Ullisten direkt an.
Der nickte achselzuckend.
»Bist du dabei?«
»Wieviel gibt es?« Ullisten schlug den gleichen Tonfall an wie Tardat Spandarjan.
»Eintausend, wenn alles heil ankommt.«
Ullisten konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Das war entschieden zu wenig für einen gefährlichen Job.
Tardat Spandarjan beobachtete sein enttäuschtes Gesicht und grinste über seinen gelungenen Scherz. »Eintausend Dollar und fünfhundert ECOS.«
ECOS war für Ullisten das magische Wort, der Begriff Dollar sagte ihm nicht viel, obwohl dort vermutlich irgendein Geldwert dahintersteckte. Mit den ECOS würde er vielleicht endlich einen Flug woanders hin buchen können, wenn er diese Reise heil überstand. Es musste wirklich nicht ganz ungefährlich sein, wenn die Männer sich davor drückten. Er konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Aber möglicherweise war das für ihn die einzige Chance, unbemerkt aus der Gegend verschwinden zu können, deshalb nahm er an.
»Gut, bin dabei.« Wo immer auch Akaba lag, es war hoffentlich weit weg von hier. Viel gefährlicher als hier konnte das gewiss für ihn auch nicht sein. Er hatte nichts zu verlieren.
Tardat Spandarjan nickte zufrieden. »Wer noch?«
Der junge Mann, der vorhin über den Betrag gemeckert hatte, meldete sich. »Meine Frau ist schwanger. Ich brauche die Kohle.« Tardat Spandarjan sah ihn scharf an. Der junge Kerl war wohl nicht seine erste Wahl gewesen, aber es meldete sich sonst keiner mehr.
»Also gut, dann kommt nach dem Essen zu den Lastzügen. Wir fahren heute noch los.«
Ullistens Laune besserte sich schlagartig. Er hatte schon angefangen, sich Gedanken zu machen, wo er einen sicheren Unterschlupf für die Nacht finden würde, aber das war nun hinfällig. Es war die einmalige Gelegenheit für ihn unauffällig das Land zu verlassen. Vielleicht konnte er damit endgültig seinen Häschern entwischen, die ihn garantiert nicht in einem der Auflieger vermuten würden. Die Zahl seiner Verfolger nahm aus irgendeinem Grund stetig zu. Wenn das so weiterging, dann würde ihn in ein paar Monaten nicht nur die halbe Galaxie suchen, sondern auch noch sämtliche Geheimdienste dieser Welt.
Tardat Spandarjan forderte seine Aufmerksamkeit, er winkte ihn zur Seite. »Komm mit, ich zeig dir die Route, damit du Bescheid weist.«
Ullisten folgte Tardat Spandarjan in die Baracke, die ihm als Büro diente. Er blieb vor einem großen Wandbildschirm stehen. Mit knappen Handbewegungen blätterte Tardat Spandarjan durch die Menüs des Programmes. Eine Karte der Erde erschien, leider nur ein paar Sekunden, aber lang genug für Ullistens gutes Gedächtnis, um sich die Namen der größten, farbig hinterlegten Bereiche zu merken. Tardat Spandarjan zeigte auf einen Teil der Weltkarte, der Ausschnitt wurde größer.
»Hier, das hier ist die Europäisch-Nordafrikanische Freihandelszone.« Ein Teil des Atlas färbte sich bläulich. »So, hier ist die Türkei, dahinter ist Armenien, hier sind wir, in Ararat.« Tardat Spandarjan zeigte auf einen grünen Bereich. Armenien hatte eine andere Farbe und schien nicht zu dieser Freihandelszone zu gehören. Ullisten nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte.
»Ihr fahrt eine gute Strecke durch die Türkei bis zur syrischen Grenze. Von dort dann quer durch Syrien, nach Jordanien bis … hier … an den Golf von Akaba. Dort wird abgeladen, aber darum braucht ihr euch nicht zu kümmern.« Auf dem Atlas erschien eine rote Linie. Ullisten betrachtete die Strecke kritisch. Er machte sich so seine Gedanken. Wenn er das Profil der Länder richtig deutete, waren da sehr viele Wüstengebiete darunter. Nach seiner Erfahrung waren das meistens recht arme Gegenden und dadurch oft auch gefährlich.
» … und die Auflieger? Sollen wir die dann …« Ullisten hörte auf zu fragen. Tardat Spandarjan warf ihm nur schweigend einen Blick zu. Er hatte verstanden. Es ging nicht um den Zement, sondern um die Transportriesen. Die Zugmaschinen sollten heil dort ankommen, der Zement war völlig egal.
»Worin besteht meine Aufgabe genau?« Ullisten wollte jetzt die Wahrheit wissen.
Tardat Spandarjan zögerte einen Augenblick, entschloss sich aber dann doch ihm wenigstens ein paar Informationen zu geben.
»Ja, ich gebe es zu, es ist nicht einfach. Es gibt etliche Zollstationen, aber darum kümmert sich der Fahrer des ersten Trucks. Er hat alle Papiere für den Zement und kennt die Leute.«
Ullisten wusste was das bedeutete. Die Zollbeamten wurden bestochen. Wieso wohl diese Zugmaschinen dorthin transportiert wurden und was war so besonderes an den Fahrzeugen? Warum wurden sie nicht vor Ort hergestellt und warum war das so gefährlich? Ullisten wusste, dass er seine Fragen nicht loswurde und sie am besten ganz aus seinem Denken verbannte. Hätte er nicht so dringend von hier verschwinden müssen, hätte er den Job sicher nicht angenommen. Diese Überführung war ein Himmelfahrtskommando mit ungewissem Ausgang.
Tardat Spandarjan musterte ihn kritisch. »Willst du aussteigen?«
Ullisten schüttelte den Kopf. »Gib mir mehr Informationen.«
»Gut! Schießen, nur wenn es sein muss. Keine Kinder erschießen, sonst seid ihr tot. Keine Kinder überfahren, sonst seid ihr auch tot. Es gibt Überwachungspatrouillen auf der Strecke, von den örtlichen Milizen, die helfen euch im Ernstfall. Du musst nur die Augen offenhalten und rechtzeitig Alarm geben, wenn du etwas Verdächtiges siehst. Dann kann der Fahrer das Notsignal absetzen. Das Geld und die ECOS werden automatisch auf dein Konto transferiert, sobald ihr abgeliefert habt. Der Fahrer des ersten Lastzugs kümmert sich um euren Rücktransport, du wirst ihn mögen.« Tardat Spandarjan klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, was ein wenig grotesk aussah, da er erheblich kleiner war als Ullisten.
»Das wird schon! Bist ein ziemlich großer, kräftiger Kerl. Davor haben die Respekt.«
Damit hatte Ullisten seine Antwort, warum Tardat Spandarjan ausgerechnet ihn ausgesucht hatte und warum er gestern den Job bekommen hatte.
»Ah, bevor ich es vergesse. Hier hast du ein Wörterbuch, leider nur Türkisch – Arabisch. Lern ein paar Wörter, kann hilfreich sein. Frag die Fahrer nach der Bedeutung, die sprechen meistens beide Sprachen und Armenisch.« Tardat Spandarjan drückte ihm ein ziemlich zerfledert aussehendes Wörterbuch in die Hand.
Das Wörterbuch entpuppte sich als ein uraltes und zerlesenes Etwas, das noch aus der Zeit vor den Chaosjahren stammte, wo Bücher noch auf Papier gedruckt worden waren. Ullisten blätterte durch die dünnen Seiten und hielt den Atem an. Wörter über Wörter, Redewendungen, Zahlen, Begriffe in gleich zwei Sprachen und verschiedenen Schriftsystemen. Das war sensationell! Wenn es das für alle Sprachen dieser Welt gab, dann hatte er in Zukunft kein Problem mehr. Er grinste so glücklich, dass Tardat Spandarjan ihn misstrauisch ansah.
»Hätte ich gewusst, dass du dich über ein altes Wörterbuch so freust, dann hätte ich mich bei der Bezahlung zurückgehalten«, knurrte er lachend.
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