„Ja, es geht wieder. Jetzt nur noch das übliche mit dem Nachlass und so.“
„Alles klar, sie hat es!“ kam wieder Bertholds Stimme. „Sie legt es dir gleich aufs Fax. Toi, toi toi! Denk an Dr. Stegmeier!“ Er lachte wieder und legte auf.
Ein paar Minuten später hatte Holbein die Unterlagen in der Hand. Sie müssten sich eben zunächst einmal mit Fax-Kopien zufrieden geben. Er legte die Kopien in den Ordner und holte die paar Seiten heraus, die da nicht hingehörten. Diese Ulli! Ulrike Dorflein, Rechtsanwaltsgehilfin, war gerade – wieder einmal – frisch verliebt. Die rosarote Wolke, auf der sie schwebte, warf lange, dunkle Schatten auf den Kanzleibetrieb. Ulli hatte Rainers Fall aus Frankfurt/Oder – zumindest Teile davon – in die Stegmeier-Akte geheftet; die Aktenzeichen unterschieden sich durch einen Buchstaben und eine Ziffer.
Holbein wollte sie schon in die Seitentasche seines Koffers schieben, als ihn ein paar Worte eines Briefes innehalten ließen: „Einstweilige Verfügung“. Er überflog flüchtig die anderen Blätter: Mahnschreiben, letzte Aufforderungen und Kopien von weiteren einstweiligen Verfügungen. Alles an verschiedene Parteien, und Holbein konnte nicht erkennen, um was es eigentlich ging. Sicher war nur, dass es ihm nicht gefiel, und sein Gefühl täuschte ihn selten.
Und alle Briefe waren von Rainer unterschrieben.
Auf was hatte der sich da eingelassen? Holbein würde es später noch einmal genau lesen. Und er würde mit Rainer reden müssen. Der Ruf der Kanzlei war schneller ruiniert, als man annahm. Sie hatten große Mühe, ihre finanziellen Schwierigkeiten nach außen zu kaschieren; die neuen Räume, erlesenes Inventar, repräsentables Äußeres – es waren hohe Investitionen, die sich erst in der Zukunft bezahlt machen würden.
„Herr Dr. Holbein?“
Er sah auf. Frau Dr. Stegmeier stand vor ihm – und er wusste Bescheid. Er kannte diesen Blick bei Frauen, wenn es um ihn – in einer speziellen Absicht – ging. Oft genug hatte er dieses Phänomen beobachtet: Schneeschmelze im Februar.
Auch das noch, dachte er, setzte ein strahlendes Lächeln auf und erhob sich.
*******
„Und der Osterhase ist für Papi!“
Charlotte stellte vorsichtig ein Gebilde aus Pappmaché und Buntpapier auf ihren Tisch, betrachtete es wohlgefällig und versteckte es dann im Schrank. „Das ist für Ostern. Bettina, wann ist Ostern?“
„Bald.“
„Gefällt er dir?“
„Ja, ja. Sehr schön. Komm, du kannst den Tisch decken. Peter kommt gleich.“
Charlotte schaute sie kritisch an. Sehr überzeugend hatte das nicht geklungen. Bettina war heute komisch. Sonst alberten sie miteinander herum, heckten sich Streiche aus, die Peter ausbaden musste und hatten einen Heidenspaß, wenn er darauf hereinfiel, auch wenn Charlotte manchmal den Verdacht hatte, dass er sich ganz gerne auf die Schippe nehmen ließ. Warum dachten die Erwachsenen eigentlich, sie würde das Theater nicht durchschauen? Aber sie machte den Spaß mit – sonst hätte sie ihrem Vater ja die Freude verdorben.
Sie ging zum Tisch und schleifte quietschend einen Stuhl zum Schrank, während sie zu Bettina hinüberschielte. Keine Reaktion. Sie kletterte auf den Stuhl, holte laut klappernd drei Teller aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch und schob den Stuhl mit Gepolter wieder zurück. Verstohlen schaute sie über die Schulter. Nicht die leiseste Ermahnung. Bettina stand am Herd, rührte in der Soße und hatte noch nicht einmal das Gesicht verzogen.
Charlotte schüttelte den Kopf. Kein gutes Zeichen. Heute war eindeutig nichts los mit Bettina.
Nach dem Essen – Charlotte war kaum in ihrem Zimmer verschwunden – fragte Peter: „Was hast du heute eigentlich? Du gefällst mir gar nicht.“
„Na, nach deiner Liebeserklärung gestern am Telefon hätte ich doch vermutet …“
Der Versuch misslang. Peter ließ sich nicht ablenken. Bettina setzte sich auf die Couch, nippte an ihrem Kaffee und suchte nach einer Zigarette. „Martin Kaspar ist gestorben“, sagte sie leise, ohne Peter anzuschauen.
Er setzte sich neben sie und streichelte ihr Haar. „Das tut mir leid. Du hast ihn nie vergessen, nicht wahr?“
Sie schüttelte den Kopf und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er hörte sie schluchzen, nahm ihr die Zigarette ab, und legte den Arm um sie. Eine ganze Weile saßen sie da. Schließlich setzte sich Bettina auf.
„Es geht schon wieder. Ich hätte gar nicht gedacht, dass es mich noch so mitnimmt nach all der Zeit. Sentimentalität.“ Sie versuchte zu lächeln. „Die Gefahr bei solchen Beinahe-Beziehungen ist, dass man sie idealisiert. Man hat ja keine Gelegenheit, den anderen richtig kennen zu lernen. Seine schlechte Seiten zum Beispiel.“
„Selbst wenn man sie kennt, ist es immer noch hart genug“, sagte Peter leise.
Sein Blick ging zu dem Foto, das auf seinem Schreibtisch stand. Peter mit dem Baby, neben ihm Renate, fröhlich lachend. Sie war gestorben, als Charlotte ein Jahr alt war.
„Er hat mir einen Brief hinterlassen. Da kam alles wieder …“
Peter war der einzige, der von Martin wusste. Sie kannten sich seit fünfzehn Jahren. Es war fast selbstverständlich gewesen, dass sie ihn ins Vertrauen gezogen hatte.
„Papi!“ Charlottes Stimme drang aus dem Kinderzimmer.
Peter ging hinüber, als er zurückkam, lachte er: „Sieh mal, mein Ostergeschenk! Sie konnte es nicht abwarten.“
Er stellte den Hasen neben das Foto auf den Schreibtisch.
„Er hat einen Bruder. Ich bin morgen mit ihm verabredetet. Im ‚Cicerone‘.“
„Wer?“
„Martin Kaspar.“
„Warum erzählst du mir das?“ Sein Ton war scharf geworden.
Bettina schaute überrascht auf. „Ich weiß nicht, einfach so. Warum? Was hast du?“
Charlotte erschien an der Tür, wollte etwas sagen und verdrückte sich gleich wieder. Eindeutig dicke Luft heute. Erfahrungsgemäß ließ man die Erwachsenn dann allein. Man konnte nie wissen, ob man nicht selber etwas abbekam.
Peter hatte sich herumgedreht und sah auf Bettina herab. „Es interessiert mich nicht“, sagte er kurz und griff nach den Zigaretten. Sie nahm sie ihm wieder aus der Hand. Aufmerksam sah sie ihn an.
„Peter – du bist eifersüchtig!“
„Und wenn schon, das ist mein Problem.“
Er leugnete es nicht einmal! Bettina konnte es nicht fassen. Ungläubig starrte sie ihn an. Peter – ihr Fels in der Brandung in all den Jahren. Daran hatte auch Renate nichts ändern können. Ausgerechnet er. Das fehlte jetzt noch, dass er seinen Kopf verlor und auch eine Wendung zu sentimentaler Romantik nahm. Und damit ihr unkompliziertes Verhältnis problematisierte.
„Peter, aber wir hatten abgemacht, dass jeder von uns seine eigenen Wege gehen kann, ohne dass der andere …“
„Schon gut. Ich benehme mich ja schon wieder. Weißt du“, er kam zurück zur Couch, „in letzter Zeit, da habe ich mir so ein paar Sachen zurechtgesponnen. Du und ich und Charlotte … . Man wird älter, Bettina.“
Er grinste und war fast wieder der alte. „Man denkt plötzlich an Familie und … , na ja, du weißt schon. Aber offensichtlich liegt es nicht so ganz auf deiner Wellenlänge.“
„Findest du es nicht schön so, wie es ist?“
„Doch, aber es reicht mir nicht mehr. Ich will dich heiraten.“ Er hob beschwichtigend die Hand und legte sie ihr auf den Mund, als er ihr Gesicht sah. Eine völlig unnötige Geste, sie hätte vor Überraschung sowieso nicht gewusst, was sie sagen sollte.
„Nicht jetzt. Irgendwann. Du sollst nur wissen, dass ich es will. Vielleicht kommst du einmal darauf zurück. Ich werde nicht mehr davon reden.“ Er stand auf. „Lass uns noch ein bisschen spazieren gehen. Charlotte!“ Er war im Kinderzimmer verschwunden.
Bettina blieb erschlagen zurück. Was war nur in ihn gefahren? Noch nie war von Heirat die Rede gewesen – nicht vor fünfzehn Jahren, als sie zusammenlebten, und nicht, als er alleine mit dem Kind dastand und sie ihre Beziehung erneuerten, auf eine völlig andere Art. Peter hätte seine Arbeit bei der Zeitung als alleinerziehender Vater kaum geschafft ohne Bettinas Hilfe in den letzten Jahren. Sie hätte nicht gedacht, dass er sie noch einmal so verwirren könnte. Und doch – wenn sie darüber nachdachte – war es eigentlich ganz einfach. Er hatte gar nichts problematisiert. Er hatte ihr eine Tatsache mitgeteilt, auf die zu reagieren nun bei ihr lag.
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