„Hast du übrigens gehört, dass Martin Kaspar gestorben ist?“ fragte Sarah. „War das nicht ein Autor von dir?“
Bettina nickte und blickte zu Michaela hinüber, die zwei Tische weiter bei einigen jungen Leuten aus der Werbeabteilung saß.
„Ein netter Mensch. Nicht mein Typ, zu ruhig, zu lehrerhaft. Ich hatte immer das Gefühl, meine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben, wenn ich mit ihm sprach.“ Sarah lachte. „Aber nett. Höchstens 45. Schade um ihn.“ Sie kämpfte mit einem Salatblatt, nahm es schließlich auf den Teller und zerschnitt es ungeniert. Sie fuhr fort: „Gestern habe ich Peter beim Einkaufen getroffen. Wie geht es mit ihm?“
Seit ihre Beziehung mit Udo wieder einmal – zum fünften Male, soweit Bettina wusste – in die Brüche gegangen war, sprach Sarah besonders gerne über die Beziehungen von anderen. Nur um nicht über eigene Probleme nachdenken zu müssen, wie Bettina vermutete.
„Jeder hat sein Leben. Doch es ist schön, dass es ihn gibt, in meinem.“ Bettina lächelte. „Ich würde ihn richtig vermissen. Und Charlotte auch.“
„Kein Wunder – Charlotte hängt an dir wie an einer Mutter. Weißt du, manchmal denke ich, es hat doch alles seinen Sinn, wie es kommt.“
*******
Noch einmal nahm Rainer Kaspar das Testament zur Hand. Nie hätte er mit so viel Geld gerechnet. Fast 150.000 Mark. Dazu die Lebensversicherung. Die Kanzlei war damit fast saniert. Er stand auf, ging durch Martins Arbeitszimmer, blieb vor den vielen Regalen stehen, las gedankenlos den einen oder anderen Buchrücken, lief dann ziellos weiter. Er schaute sich um, als sähe er Martins Wohnung zum ersten Mal. Was wusste er eigentlich von ihm? Sie waren sich fremd geworden, seit Martin mit Ingeborg zusammen war.
Ingeborg … Kein Wort von ihr im Testament. Und ausgerechnet er sollte nun entscheiden, was und wie viel sie bekommen würde. Sie könnte versuchen, das Testament anzufechten. Die Rechtsprechung hatte sich den Zeiten angepasst und urteilte in Sachen eheähnliche Lebensgemeinschaft anders als noch vor fünfzehn Jahren. Sie hätte eine gute Chance, wenn – ja, wenn sie noch zusammengelebt hätten.
Ein Bier wäre jetzt das Richtige, dachte er und ging in die Küche. Er fand keines. Er fand überhaupt keinen Alkohol. Natürlich. Seit seinem Rückfall vor fünf Jahren hatte Martin keinen Tropfen mehr angerührt. Der Entzug war lang und hart gewesen. In den vielen Gesprächen, die dann folgten, waren sich die Brüder zum letzten Mal nahe gewesen, fast wie früher. Nur fast.
Er setzte sich wieder ins Wohnzimmer und nahm sich noch einmal Martins Brief vor. Das Foto von Bettina Veit fiel aus dem Umschlag. Rainer betrachtete es kurz, legte es beiseite.
Lieber Rainer,
das Testament mag Dir auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, andererseits kennst Du das Verhältnis zwischen Ingeborg, Michaela und mir gut genug, um zu verstehen. „Die ganze Hölle möge sich auf ihrem Wege finden,“ erinnerst Du Dich? – Kümmere Dich um sie! Ich weiß, dass bei Dir alles in guten Händen ist, Du wirst es richtig machen.
Wir hatten in den letzten Jahren nicht mehr viel miteinander zu tun, Du und ich. Ich habe das immer bedauert und war doch nicht in der Lage, die Barriere einzureißen, die sich aufgebaut hat. Du kennst mich, ich brauche immer einen Anstoß und hoffte, er würde von Dir kommen. Doch er kam nicht. Betrachte dies bitte nicht als Vorwurf gegen Dich, sondern gegen mich. Einer der vielen Vorwürfe, die ich mir machen muss.
Martin
PS: Bitte gib den beiliegenden Brief Bettina Veit – persönlich. Ich will ihn nicht dem Notar übergeben. Sie soll nicht womöglich noch bei der Testamentseröffnung erscheinen müssen. Sie hat im KWK-Verlag in Frankfurt gearbeitet; Du wirst sie schon finden.
Er musste lächeln über die blinde Zuversicht, die aus diesen Zeilen sprach. Außenstehende hätten sie interpretieren können als das Davonlaufen vor jeglicher Verantwortung, doch Rainer kannte seinen Bruder besser. Martin hatte zuweilen etwas rührend Hilfloses, wenn es um praktische Dinge ging, weitreichende Entscheidungen waren ihm ein Gräuel. Er hat auch kaum welche treffen müssen, dachte Rainer. Dafür hatte er immer mich. Und dann Ingeborg. Und jetzt hat er mir den Schwarzen Peter zugespielt, ohne mir eine Chance zu geben, ihn wieder loszuwerden. Nun ja, wenigstens Frau Veit hatte er problemlos finden können und damit eine der Aufgaben erledigt, die Martin ihm hinterlassen hatte. Er steckte Foto und Brief wieder in den Umschlag.
Es klingelte. Michaela Markus stand vor der Tür.
„Hallo, Rainer.“
„Hallo. Komm rein.“
Sie bewegte sich in der Wohnung wie in ihrer eigenen. Er hatte sie bei der Beerdigung zum ersten Mal wieder gesehen – nach fast vier Jahren. Sie sah mitgenommen aus. Doch trotz der Anspannung in ihrem Gesicht und der geröteten Augen konnte er sehen, wie schön sie geworden war. Damals hatte sie etliche Pfunde mehr, Pickel im Gesicht und konnte kaum jemanden ansehen, der mit ihr sprach. Martin hat seine Sache gut gemacht, dachte Rainer. Ingeborg war immer sehr viel mehr als er in ihrem Beruf aufgegangen und hatte vieles an Michaelas Erziehung Martin überlassen.
„Komm, setz dich. Dir geht es nicht sehr gut, hm? Du scheinst die einzige zu sein, die wirklich um ihn trauert.“
„Er war doch mein Vater“, sagte sie leise. Dann sah sie ihn an: „Trauerst du nicht um ihn?“
„Doch. Und um vieles mehr als um seinen Tod. Zum Beispiel darum, dass ich so vieles versäumt habe, als er noch lebte.“
Michaela griff nach dem Testament, das Rainer achtlos auf dem Wohnzimmertisch hatte liegen lassen.
„Was wirst du jetzt mit dem Geld machen?“, fragte sie.
In Rainer regte sich Misstrauen. „Hat deine Mutter dich geschickt?“
Sie winkte ab: „Nein, natürlich nicht. Außerdem kommt sie gleich selber. Sie sucht nur noch einen Parkplatz. Aber sie wird mit dir darüber reden wollen, wie ich sie kenne.“
Es klingelte aufs Stichwort. Ingeborg betrat die Wohnung und nahm sie sofort völlig für sich ein. Es war immer das gleiche: Sobald sie einen Raum betrat, war sie der Mittelpunkt des Geschehens. Sie war jetzt 40, sah aus wie 34, benutzte kaum Make-up, wie um jedem zu zeigen, dass sie das nicht nötig hatte, kleidete sich sportlich und wirkte stets schick. Sie gehörte zu den Frauen, die es schafften, noch in einem Kartoffelsack elegant aussehen. Ihr Haar war kurz und so raffiniert geschnitten, dass es eine Fülle vortäuschte, die womöglich gar nicht vorhanden war. Sie lachte gerne und war eine bezaubernde Gesprächspartnerin. Ganz und gar nicht der herbe Typ, als den man sich eine Studienrätin für Chemie und Biologie landläufig vorstellt.
Und sie kannte ihre Wirkung sehr genau.
Sie begrüßte Rainer mit einem leichten Kuss auf die Wange und setzte sich neben ihre Tochter auf die Couch.
„Bekomme ich einen Kaffee?“
„Ja sicher.“ Rainer ging in die Küche, um die Maschine anzustellen. Als er wiederkam, hatte Ingeborg das Testament in der Hand.
„Wir müssen darüber reden!“
„Du verlierst keine Zeit, nicht wahr?“
„Was meinst du? Eine Anstandsfrist? Sei nicht albern. Du fliegst in ein paar Tagen nach Berlin zurück – sollen wir das dann telefonisch regeln? Wo läge da der Sinn?“
Natürlich hatte sie Recht. Es hätte keinen Sinn, aus Pietät die Sache hinauszuzögern. Sie sprach gleich weiter, ihr Ton hatte sich jedoch verändert. „Du bist verstimmt, Rainer. Vermisst die Anzeichen meiner tiefen Trauer, Heulen und Tränen über Martins Tod, nicht wahr?“ Sie sah ihn offen an und wandte sich dann ab. „Ich sehe nicht ein, dass ich sie mit jedem teilen muss.“
„Ich bin nicht ‚jeder’“, sagte Rainer.
„Komm, bitte, lassen wir das jetzt.“
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