Michaela stand auf. „Ich merke schon, es ist besser, ihr macht das unter euch aus. Ich wollte sowieso noch in die Stadt. Mach‘s gut, Rainer.“
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte Ingeborg: „Weißt du, ich brauche wirklich dringend Geld. Michaela und ich haben da kürzlich eine Eigentumswohnung gesehen, genau richtig für uns. Westend, nicht gerade billig. Doch etwas fürs Leben, sozusagen. Ich müsste mich bald entscheiden. Doch dazu muss ich wissen, wie viel Geld ich habe.“
„Du kannst sicher sein, dass ich in seinem Sinne handeln werde. Er hat mir vertraut. Nur – lass mir noch ein paar Tage Zeit, bitte.“ Er stand auf, um den Kaffee zu holen. Dabei nahm er den Briefumschlag, der die ganze Zeit neben dem Testament gelegen hatte, vom Tisch und steckte ihn ein.
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„Peter! Wie schön, dass du anrufst!“
„Na, so überschwänglich hast du mich ja schon lange nicht mehr begrüßt. Wie geht‘s denn?“
„Bescheiden. Ich habe mal wieder ein Berger-Manuskript vor mir. Und nichts klappt.“
„Du Armes. Und wann muss es fertig sein?“
„Hat noch Zeit. Aber es nervt. Wo bist du?“
„Noch in der Redaktion. Muss noch mal zur Bundesbank raus. Wir sind da an einer vertrackten Geschichte, die sich wohl noch etwas hinzieht.“
Bettina hörte ein Feuerzeug schnappen. „Du wolltest es doch lassen, Peter!“
„Ich rauche nicht. Ich spiele nur mit dem Ding.“
„Und Charlotte?“
„Raucht auch nicht“. Er kicherte. „Blöder Witz, entschuldige. Frau Schäfer ist bei ihr. Hör mal, kannst du sie morgen vom Kindergarten abholen? Charlotte, meine ich, nicht Frau Schäfer.“ Er lachte wieder leise. „Ich werde es nicht schaffen bis zwölf. Dafür bin ich dann nachmittags frei und wir können zusammen essen. Hast du Zeit?“
„Ja, kein Problem. Das heißt dann, ich gehe nach dem Kindergarten schon einmal zu dir und koche, oder?“
Peter lachte. „Siehst du, deshalb liebe ich dich so. Eine Frau mit rascher Auffassungsgabe …“
„Schwätzer!“ lachte Bettina und legte auf.
Sie wandte sich wieder den Korrekturabzügen zu und seufzte. Über spezifische Topoi in Lichtenbergs Aphorismen unter besonderer Berücksichtigung des ideologiekritischen Aspektes der frühbürgerlichen Emanzipationsbestrebungen. Bettina schüttele den Kopf. Unmöglich. Völlig undenkbar. Den Titel konnte man nicht lassen. So etwas ließ sich einfach nicht verkaufen, auch nicht als Fachbuch.
Das bedeutete, sie würde noch einmal mit Berger reden müssen. Ihr graute davor. Professor Dr. Christian Berger, Autor des vorliegenden Manuskripts. Arrogant, selbstgefällig, chauvinistisch und stur. Aber eine unangefochtene Kapazität auf dem Gebiet der Literatur des 18. Jahrhunderts. Der Verlag konnte sich glücklich schätzen, ihn als Autor gewonnen zu haben. Sie weniger. Bei jedem Telefonat mit ihm ließ er sie überdeutlich spüren, dass er sie für inkompetent hielt, ihm Vorschläge zu machen, und für völlig unwürdig, sein Buch zu lektorieren. Dabei legte er eine ausgesuchte Höflichkeit an den Tag, gab sich keine direkte Blöße, so dass sie auch keine Handhabe zu echter Gegenrede hatte. Ein Fisch, der ihr immer wieder aus den Händen glitt.
Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.
Das war Lichtenberg, spöttisch, voller Witz und mit scharfem, kritischem Verstand, der den ihren momentan lähmte. Ihr fiel beim besten Willen keine Änderung des Titels ein, die verkaufsfördernd – oder doch wenigstens nicht verkaufshemmend – und gleichzeitig wissenschaftlich anspruchsvoll genug war. Sie seufzte. Nein, heute würde sie ihn nicht anrufen. Das schaffte sie nicht. Dann lieber weiter im Text.
Die Entdeckung des Gefühls und einer empfindsamen Seele ist genuin bürgerlich und als Teil der Emanzipation des Bürgertums gegen aristokratischrepräsentatives Amüsement gerichtet. Tränen werden zum Ausdruck der aufklärerischen Vernunft, die sich dem Mitmenschen zuwendet. Und Tränen sind reichlich geflossen, seit Mellefont und Sara auf deutschen Bühnen zum ersten Mal geweint haben. Um die Mitte des Jahrhunderts impliziert Empfindsamkeit jedoch immer auch soziale Handlungsbereitschaft, Philanthropie: „Empfindsam zu schreiben, dazu ist mehr nötig als Tränen und Mondschein“ (GCL, I, F 157). Für Lichtenberg ist zwanzig Jahre später die gesellschaftliche Perspektive noch fester Bestandteil „.. lasst Eure Empfindungen Kraft zu guten oder zu großen Taten [geben], nicht das Sprechen aus Empfindung ist, worüber ich lache, … sondern das Schwätzen von Empfindung“ (GCL, I,E 240).
mit seiner Kritik an der falschen Empfindsamkeit. Zunächst noch gegen eine willenloser Subjektivität ohne praktischmoralische …
Bettina stutzte, blättere zurück, wieder vor. Der Anschluss war nicht da, da fehlte etwas. Sie blätterte im Manuskript – auch hier fehlten ein paar Seiten. Berger hatte sie nicht mit zurückgeschickt. Wütend betrachtete sie den vollgeschmierten Korrekturabzug und warf den Stift hin. Sie hatte genug. Sarah würde toben. Ihre ganze Kalkulation war durcheinander.
Kurz entschlossen griff Bettina nun doch zum Telefon und rief die Universität an. Die Fachbereichssekretärin teilte ihr kühl mit, dass Herr Professor Berger gerade in einer Vorlesung sei. Bettina bat um Rückruf und legte auf. Sie würde ihn am besten im Verlag treffen, auf neutralen Boden. Mit Sarah als Schiedsrichter, falls ihr selber die Nerven durchgingen. Sie machte sich einen Vermerk und legte die Fahnen beiseite.
Ihr Blick ging aus dem Fenster, wo der Regen unablässig in feinen Bindfäden vom Himmel rann. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag immer noch der Brief von Martin Kaspar, den ihr Rainer Kaspar gegeben hatte. Der Brief war der eigentliche Grund für ihre Missstimmung, wenn sie ehrlich war. Seit zwei Tagen lag er da – ungeöffnet. Sie hatte sich noch nicht entschließen können, ihn zu lesen.
Als das Telefon klingelte, schreckte sie hoch. Unwillig hob sie ab.
„Veit“.
„Guten Tag. Hier ist Rainer Kaspar. Störe ich?“
„O nein … ich war nur eben …“
„… in Gedanken?“ Sie hörte ihn lachen.
„Ja … nein. Entschuldigen Sie …“
Warum war sie eigentlich so verwirrt?
„Ich fürchtete schon, ich komme ungelegen“.
„Nein, nein.“
Pause.
„Ich wollte Sie fragen …“
„Ja?“
„Ich meine, vielleicht könnten wir – …“
Seine Unsicherheit half ihr. „… uns einmal sehen und etwas zusammen essen?“
Sie mussten beide lachen. Der Bann war gebrochen. „Wissen Sie, ich dachte es sei ganz einfach“, sagte er. „Ich dachte, ich rufe Sie an und frage Sie, ob Sie mit mir essen gehen wollen. Und plötzlich stellt sich das als großes Problem heraus. Ich stehe hier dauernd neben mir und frage mich, warum ich mich so kindisch benehme.“ Sie sah ihn förmlich den Kopf schütteln. „Also, was meinen Sie?“
„Ja gerne. Wann passt es Ihnen?“
„Samstag Abend? Um acht? Kennen Sie das ‚Cicerone’?“
„Ja, ich weiß wo das ist.“
„Also bis dann. Ich freue mich.“
Langsam legte sie auf und starrte auf den Hörer. Drei Jahre, dachte sie. Und das Leben ging weiter, als sei nichts geschehen.
Sie stolperte über den Koffer, stieß sich am Bett, warf einen Stoß TShirts um, fluchte leise und fand schließlich das läutende Telefon vergraben zwischen Jeans und Blusen.
„ Ja, Veit.“
„ Hier ist Martin Kaspar.“
Ihr Herz kam mit dem letzten Schlag aus dem Rhythmus. Über ihr Atmen hatte sie urplötzlich die Kontrolle verloren.
„ Guten Tag“, brachte sie heiser hervor. Der Kloß in ihrem Hals war resistent gegen ihr Schlucken.
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