Stefan Zeisig,KHK, Rauschgiftdelikte
„Nun komm schon! Stell dich nicht so an!“
Der Junge nestelte an der Bluse seiner Begleiterin, während er mit der anderen Hand tollpatschig über ihre Brüste fuhr. Das Mädchen wehrte ihn heftig ab.
„Nein, Danny, hör auf! Nicht so. Es gefällt mir nicht!“ Mit einem Ruck setzte sie sich auf und schob seine Hände weg. „Ich will überhaupt nicht mehr!“
„Aber es war doch deine Idee, hierher zu kommen! Dumme Kuh! Echt zickig bist du heute!“ Er griff nach ihrer Schulter, drückte sie ins Heu zurück und warf sich über sie.
„Lass das, verdammt !“ Sie wandte das Gesicht ab, als sein Mund näher kam, und versetzte ihm mit ihrem freien Knie einen heftigen Stoß in die Seite.
Die Sekunde, in der er mit schmerzverzerrtem Gesicht locker ließ, nutzte sie, um sich blitzschnell zur Seite rollen zu lassen und aufzustehen. Dabei stolperte sie und fiel seitwärts auf einen Heuballen.
Dann schrie sie. Sie schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.
Er brüllte sie an: „Julia, hör auf zu schreien! Ist ja gut! Ich lass dich ja in Ruhe! Wenn dich jemand hört!“
Mit einem Satz war sie auf den Beinen und im nächsten Moment an der Tür der kleinen Hütte. Ihr Schreien war in ein lautes Wimmern übergegangen. Doch sie nutzte den offenen Fluchtweg nicht, sondern blieb, zitternd am ganzen Körper, an der Tür stehen.
Danny, jetzt mehr verblüfft als ärgerlich, setzte sich mit einem Ruck hoch. „Was ist denn nur in dich gefahren?“ fragte er, während er sich seine linke Seite massierte.
Sie zeigte auf das Heu, aus dem sie gerade aufgesprungen war.
„Da … da! Da liegt jemand!“
Er sah verständnislos von ihr zu der Stelle neben ihm. Dann rutschte er auf Knien zu dem Ballen hin und schaufelte vorsichtig ein paar Hände voll Heu beiseite. Plötzlich zuckte er zurück, als habe er einen elektrischen Schlag erhalten. Ein Bein kam zum Vorschein. Julia stieß erneut einen durchdringenden Schrei aus. Danny war aufgesprungen und ebenfalls zur Tür geflüchtet. Sein Gesicht war aschfahl. Ein paar Minuten standen sie beide zitternd an der Tür der Blockhütte.
„Er ist tot!“ flüsterte Julia.
„Es ist eine Frau“, gab Danny ebenso leise zurück.
„Wir müssen die Polizei holen!“
Danny nickte, aber sie bewegten sich beide nicht.
„Sieh mal, da liegt noch was!“ Er zeigte auf ein weiß aus dem Heu schimmerndes Blatt Papier. Julia hielt ihn zurück, als er sich langsam wieder der Gestalt näherte. Er wehrte sie ab, kniete nieder und fegte vorsichtig ein paar Halme beiseite. Das Papier kam jetzt vollends zum Vorschein, eine herausgerissene Seite aus einem Heft. Es lag neben der Toten, etwa in Taillenhöhe.
Danny winkte Julia heran. „Da steht was drauf. Komm mal her!“
Sie schüttelte heftig den Kopf. Dann siegte ihre Neugier und sie sah Danny über die Schulter, während er las.
Ich lege mich so oft zu Bette mit dem Wunsch, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen, und morgens schlag ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder, und bin elend. Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war. Mit mir ists aus! Mir wärs besser, ich ginge. Ich seh all dieses Elends kein Ende als das Grab.
Sie hockte zusammengekauert am Grab und redete lautlos mit dem Toten. Der Duft der Blumen neben dem frisch aufgeschütteten Hügel zog betörend zu ihr hin. Das ist endgültig das Ende, dachte sie, und es ist gut so. Langsam legte sie die Rose aus ihrer Hand auf einen Strauß Vergissmeinnicht.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon so da saß. Ihre Knie begannen zu schmerzen. Sie stand auf, ging ein paar Schritte weiter, setzte sich auf eine Bank in die Sonne und starrte zum Grab hinüber. Es war März, die Forsythien blühten, der Duft des Frühlings lag in der Luft.
Dass Martin Kaspar gestorben war, hatte sie durch einen merkwürdigen Zufall erfahren: Sie las seine Todesanzeige. Noch nie, so weit sie sich erinnerte, hatte sie Todesanzeigen beachtet, wenn sie Zeitung las, doch am Samstag war ihr Blick darauf gefallen. Ein Zufall, wenn es Zufälle gibt. Die Beerdigung vormittags hatte sie gemieden – fremde Leute, mit denen sie nichts zu tun hatte.
„Haben Sie meinen Bruder gut gekannt?“
Sie fuhr herum. Neben ihr saß ein Mann, der sie aufmerksam betrachtete. Sie starrte einen Moment in sein Gesicht, ohne ihn wahrzunehmen, und schaute dann wieder zum Grab hin.
„Nein“, sagte sie leise.
Der Mann blieb sitzen. Sie hatte ihn nicht kommen hören, doch er musste sie die ganze Zeit beobachtet haben.
„Nein, eigentlich habe ich ihn nicht gut gekannt,“ murmelte sie vor sich hin. – „Sie sind ihm gar nicht ähnlich“, sagte sie nach einer Weile und schaute ihn an. Ende Vierzig, dunkles Haar, das bereits mit grauen Strähnen durchzogen war. Er sah müde aus.
Aber er hat seine Augen, dachte sie.
Sie raffte sich auf. Es hatte keinen Zweck. Es war verführerisch, weiter in der Märzsonne zu sitzen. Doch sie hatte sich vorgenommen, mit diesem Tag das Kapitel abzuschließen, und es schien ihr gelungen zu sein. Man nimmt Abschied und kehrt zum Leben zurück.
Sie stand auf, nickte dem Fremden zu und ging langsam zum Ausgang.
„Bettina!“
Erschrocken blieb sie stehen und wandte sich langsam um.
„Sie sind doch Bettina Veit, oder?“
Sie nickte automatisch. Wie um alles in der Welt … ?
Er schien aus seiner Lethargie erwacht zu sein und stand abrupt auf.
„Ich muss mit Ihnen reden. Ich hätte Sie sowieso gesucht. Dass wir uns hier treffen, macht die Sache einfacher.“
Sie sah ihn an, ohne zu verstehen.
„Martin hat mir einen Brief anvertraut, den ich Ihnen geben soll. Ein Foto lag auch dabei. Deshalb habe ich Sie erkannt.“
Sie trat einen Schritt auf ihn zu, dann setzte sie sich wieder.
„Einen Brief? Jetzt … ?“
Ihre Knie waren merkwürdig schwach. Warum hatte er das getan? Warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Sie müsste jetzt nur aufstehen und endgültig gehen. Doch sie wusste, dass es nicht möglich sein würde.
Rainer Kaspar griff in seine Manteltasche und holte aus seiner Brieftasche einen Umschlag hervor. Ihr Name stand darauf; sie erkannte Martins Schrift sofort.
„Er hatte seinem Testament einen Brief an mich beigelegt, in dem noch dieser Umschlag steckte. Ich sollte ihn Ihnen persönlich geben.“
Sie nahm den Brief und tat ihn in ihre Handtasche, ohne ihn noch einmal anzusehen. „Wie ist er gestorben?“
Die Antwort kam zögernd. „Er hatte einen Unfall.“ Er sah sich um. „Haben Sie etwas Zeit?“
„Wie gut haben Sie Martin gekannt?“, fragte er noch einmal. Sie saßen jetzt in einem Café in der Nähe des Südfriedhofs am offenen Fenster. Der Henninger Turm glänzte weiß in der Sonne. Bettina sah auf den Vorgarten hinaus, in dem sich wie feiner Staub das erste Grün auf den Zweigen ausbreitete.
„Ich traf ihn vor ein paar Jahren und hatte beruflich mit ihm zu tun. Danach … “ sie zögerte, ließ dann den Rest des Satzes mit einer vagen Handbewegung in der Luft hängen und starrte in ihre Kaffeetasse.
Sie erinnerte sich noch genau, wie Martin Kaspar vor vier Jahren zum ersten Mal ihr Büro im Verlag betrat und ein Manuskript vor sie auf den Schreibtisch legte, eine Abhandlung über Nicolai. Sie hatten vorher miteinander telefoniert, der Annahme des Manuskripts stand nichts im Wege; man kannte ihn als kompetenten Autor, der bereits zwei Bücher bei ihnen veröffentlicht hatte. Sie hatten danach über Wochen immer wieder miteinander zu tun, bis aus dem Manuskript ein Buch geworden war. Sie war vom ersten Augenblick von ihm fasziniert gewesen und hätte bis heute nicht sagen können, woran das lag. Martin Kaspar war ein eher unattraktiver Mann, leise, verschlossen, distanziert, aber immer freundlich. Sie hatten während dieser Zeit kaum ein persönliches Wort miteinander gewechselt, als ob eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen bestünde, die es ihnen unmöglich machte, ein harmloses Gespräch zu führen. Bettina hatte nicht den Mut, diese Mauer zu durchbrechen. Und doch zunehmend den Eindruck, als empfände er diese Situation genau wie sie.
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