„Und Martin Kaspar ist nicht der Vater?“
„Nein. Das Mädchen war ein Jahr alt, als Ingeborg Markus und Martin Kaspar sich kennen lernten. Das war vor 17 Jahren. Eine lange Ehe. Nur ohne Trauschein. Was die Markus jetzt zu spüren bekommt. Und rechtlich kann sie da gar nichts machen, wo sie noch nicht einmal mehr zusammen wohnten.“
„Ihre Anteilnahme in allen Ehren, ich habe begriffen, dass sie Eindruck auf Sie gemacht hat – aber weiter. Der große Blonde?“ Langer zeigte auf einen eleganten Mann neben Rainer Kaspar.
„Dr. Frank Holbein, einer der Partner von Rainer Kaspar aus der Kanzlei. Sie sind zu dritt. Kaspar, Holbein und …“ er blätterte in seinen Notizen. „… Berthold. Dieter Berthold.“ Er zeigte wieder auf das Foto. „Das hier ist Norbert Markus, hier, der mit dem Bart. Er ist der Bruder von Ingeborg Markus. Der Rest Kollegen und Schüler aus dem Gymnasium.“
„Sind die auch befragt worden?“
Korp nickte. „Bei Schülern und Kollegen allgemein beliebt. Zumindest wollte niemand etwas Schlechtes über Kaspar sagen.“
Langer sah von den Fotos auf. „Ein Unfall. Tragisch. Aber nicht mehr. Pflichtuntersuchung, reine Routine. Wir haben keinerlei Indizien für das Gegenteil. Abgeschlossen.“
„Nur, dass Kaspar verdammt viel zu vererben hatte. Als Lehrer! Dazu noch die hohe Lebensversicherung.“
„Es soll sparsame Leute geben“, erwiderte Langer mit einem Blick auf Korps neues Jackett. „Und Sie hatten doch Einblick in die Kontoauszüge?“ Als Korp nickte, fuhr Langer fort: „Wir haben wirklich alles überprüft. Mann, Korp, wir haben so viele Fälle am Hals, echte Fälle!“
Korp seufzte. Langer blätterte noch einmal – eher oberflächlich – in der Akte, las hier und da einen Satz und wollte sie schon zuklappen, als er stutzte. Er sah auf.
„Ich würde viel lieber mit Holbein noch einmal reden. Sehen Sie mal das hier.“ Er hielt Korp den Ordner hin. „Wieso ist Ihnen das vorher nicht aufgefallen?“
Korp sah sofort, was er meinte. Wieso eigentlich immer mir? dachte er, während er gleichzeitig nach dem Telefon griff, in die Akte schielte und eine Nummer wählte.
„Ist Holbein nicht befragt worden?“
„Doch, von Schmidtbauer. Wie alle anderen auch. Routinefragen. Keine bemerkenswerten … Ja, guten Tag, Frau Markus. Hier ist noch einmal Oberkommissar Korp. Können Sie mir sagen, wo ich Dr. Holbein erreichen kann? Er ist doch noch nicht zurück nach Berlin geflogen?“ Pause. „Und wann? – Nein, nur noch eine Frage. Danke.“ Er legte auf. „Holbein ist nach Stuttgart gefahren, zu Klienten. Will am Wochenende nach Frankfurt zurück, bevor er nach Berlin fliegt.“
„Na gut, der läuft uns nicht weg. Kümmern Sie sich darum.“
„Ja, Mann, murmelte Korp.
*******
Sarah Remberger hob den Kopf vom Schreibtisch, der mit Korrekturfahnen übersät war, und streckte sich. „Es wird Zeit, dass ich hier rauskomme. Zwei Wochen Lago Maggiore – und da unten ist fast schon Mai. Mensch, ich freu‘ mich so darauf. Hoffentlich klappt es mit Hilde.“
Bettina sah ihre Freundin an und grinste. Sie kannte das gespannte Verhältnis zwischen den Schwestern. Zwei Lokomotiven, die ständig unter Volldampf standen. Und nicht selten mit ungezügelter Kraft aufeinander losrasten. Manchmal gelang ihnen kurz vor dem Zusammenstoß eine Vollbremsung. Manchmal auch nicht. Und nun wollten sie zusammen in Urlaub fahren.
„Guck nicht so skeptisch, wir sind beide erwachsen. Und das Appartement ist groß genug, dass man sich auch mal aus dem Weg gehen kann. – Es ist ein Experiment“, fügte Sarah hinzu, als sie Bettinas Gesicht sah.
„Na, denn viel Glück. Wann fahrt ihr?“
„Heute Nacht. Wir wollen morgen früh in Cannero sein. Hilde hat heute schon Urlaub, sie kann sich ausruhen und fahren. Ich hoffe, die Tage lenken mich ein bisschen ab von der Sache mit Udo. Eigentlich wollten ja er und ich … Dieser Mistkerl! Er wird sich nie ändern.“
Ihr Gesicht spiegelte Wut und Trauer wider. Dann blickte sie sich um und seufzte tief. In der Herstellung des Verlages gab es auch – und gerade – am letzten Arbeitstag keine aufgeräumten Schreibtische.
„Also, dann schicke ich das heute noch in den Satz zurück; bis ich wiederkomme, ist die Revision auf dem Tisch.“ Sie packte die Fahnen zusammen und heftete eine Notiz daran. Dann legte sie das Paket in den Ablagekorb. “Und was ist mit dem Lichtenberg ?“
Bettina verzog das Gesicht und stöhnte. „Dieser Berger! Einer von den Autoren, die erst anfangen zu schreiben, wenn die Fahnen vor ihnen liegen! Es wird teuer werden .“
„Aber ein wichtiger Autor, wenn man dem Chef glauben darf!“
„Ja, und das weiß er auch. Sehr genau sogar. Ich will diese Woche mit der Korrektur durch sein. Ich könnte sie dann selber an die Setzerei geben.“
Das Telefon klingelte. Sarah sprach ein paar Worte hinein, legte auf und stöhnte.
„Ein Uhr – Sie vergessen wieder das Essen!“ Michaela Markus, die Auszubildende, stand an der Tür. Sie sah mitgenommen aus.
„Und das wäre doch schade!“ Sarah lachte schon wieder. „Wir kommen! – Ja, kein Problem, du machst das schon“, wandte sie sich wieder an Bettina und sah auf die Uhr. „Komm, lassen wir uns noch mal so richtig von den Köstlichkeiten der Kantine verwöhnen, bevor ich mich dem fürchterlichen italienischen Essen aussetzen muss.“ Sie grinste und packte ihre Handtasche.
Einmal in der Woche, wenn Bettina ihren regelmäßigen Besuch im Verlag machte, kam auch sie in diesen zweifelhaften Genuss. Teller und Besteckgeklapper, Reden, Lachen und ein undefinierbarer Essengeruch kündigten im Erdgeschoss an, dass in der Kantine Hochbetrieb herrschte. Es gab Spaghetti – ausgerechnet – und vorher ein dickflüssiges Etwas, was laut Speiseplan als ‚pürierte Gemüsesuppe‘ zu essen war.
„Wär’ ich jetzt nicht drauf gekommen“, raunte Sarah, als sie die milchig weiße Soße in Empfang nahm und skeptisch beäugte. Sie schob ihr Tablett weiter. Ludwig Frohling, Lektor für Sozialwissenschaften und Politologie und vor ihr in der Schlange, wandte sich um.
„Um mit Tucholsky zu sprechen: ‚Haben Sie das gegessen, oder werden Sie das essen?’“ Er lachte dröhnend, ohne auf den grimmigen Blick des Kochs hinter der Theke zu achten.
„Sie brauche die Supp net nemme. Sie könne se auch gern stehe lasse! Es gibt genuch Abnemmer dafür.“
Frohling schüttelte den Kopf. „Sie gehört doch dazu, oder? Dann wird sie auch genommen. Ich liebe Überraschungen.“ Er drehte nochmals den Kopf zu Sarah. „Übrigens, Frau Remberger, ich warte immer noch auf die Korrekturen zum Neuen Europa . Sie sollten schon letzte Woche da sein.“ Er schnappte sich eine Cola aus der Vitrine. „Glas?! Sind alle!“ Auffordernd fuchtelte seine Hand Richtung Küchenhilfe, während er immer noch Sarah im Visier hatte.
„Ich rufe heute Nachmittag noch mal an und sag Frau Pochstedt-Steiner, dass sie dran bleibt, wenn ich in Urlaub bin.“
„Urlaub? Schon wieder?“ Frohling lachte wieder raumfüllend, als hätte er einen Witz gemacht, dessen Pointe allen anderen verschlossen zu bleiben hätte.
Sarah machte, dass sie weiterkam, was nicht so einfach war, weil Frohling immer noch vor ihr stand. „Haben Sie eigentlich die Setzerei gewechselt? Der dritte Band der Ökonomie strotzt ja nur so von Satzfehlern!“
„Ich habe jetzt Mittagspause“, sagte Sarah bestimmt und schnappte ihr Tablett. Bettina folgte ihr. Sie fanden einen Platz in der Ecke, wo sie ungestört sitzen konnten.
„Es wird höchste Zeit! Morgen sitze ich schon in der Sonne, und alle Lektoren der Welt können mich mal, Anwesende ausgeschlossen.“
„Nun hör’ schon auf, mich neidisch zu machen!“ Bettina stellte die Suppe beiseite – sie war ungenießbar. „Lago Maggiore – das wäre jetzt genau das, was ich brauche. Und richtige Pasta!“ Bettina sah sehnsüchtig auf ihren Teller, wo die Spaghetti in einer undefinierbaren roten Sauce klebten.
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