„Das hier, mein Freund, ist das Hauptquartier des Zirkels der schwarzen Serafim. Wir sind die reichsten und mächtigsten Räuber Mentéls.“ Er vollführte eine ausholende Geste mit beiden Armen. „Hier treffen wir alle wichtige Entscheidungen über unsere weiteren Vorhaben. Hast du von dem Überfall auf die Villa des Stadtverwalters gehört?“ Der seltsame Fremde wartete nicht auf eine Antwort. „Das waren wir.“
Lannus hatte von dem Überfall gehört. Es war so viel Gold gestohlen worden, dass man damit eine neue Stadt hätte errichten können.
Er war er also an eine Räubertruppe geraten. Er spielte flüchtig mit dem Gedanken zu verschwinden, doch kam zu dem Entschluss, dass er hier reich werden könnte. Sah die Möglichkeiten vor seinen Augen. Ein Mann von seinen Fähigkeiten konnte es an einem Ort wie diesem unfassbar weit bringen, davon war Lannus vollkommen überzeugt. Des Weiteren würde man ihm hier mit Sicherheit Schutz gewähren, falls er in Schwierigkeiten geraten sollte; eine Möglichkeit, die man nicht ausschließen konnte.
Womöglich war er auch direkt in eine Falle getappt. Womöglich hatte der Flüsterer sein Gold erspäht und ihn nur deshalb in den Palast geführt. Um ihn zu töten und anschließend auszurauben. Lannus spürte wie sich salzige Perlen auf seiner Stirn bildeten.
„Ich habe davon gehört.“ nickte er bedächtig. Jedes Wort einzeln betonend.
„Gut, jeder hat davon gehört. Aber niemand weiß, dass wir etwas mit der Sache zu tun haben. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir der mächtigste Zirkel im gesamten Osten der Insel Santúr sind.“ Lannus zuckte zusammen. Die Stimme des Mannes vibrierte fanatisch, seine Augen funkelten.
„Dein Name – „ begann Lannus.
„Der tut nichts zur Sache.“ Der Mann winkte ab. Lannus schüttelte den Kopf und folgte dem Namenlosen durch einen Torbogen gegenüber der Eingangspforte.
Der nächste Raum war ein wenig kleiner als die Eingangshalle, jedoch mit ähnlichem Dekor versehen. Er war rund und an seinem Ende führten zwei Wendeltreppen auf einen Balkon, welcher den gesamten Umfang des Saales abdeckte. Eine breite Glasfront gab am Ende des imposanten Raumes, dort wo die Wendeltreppe auf den Balkon führte, den Blick auf einen wunderschönen Garten mit friedvollen, grünen Teichen frei, in denen sich Fische tummelten; auf perfekt gemeißelte Statuen, farbenprächtige Blumen und magisch anmutende Springbrunnen. Dem Jetzt haftete ein unechter Hauch an. Lannus hatte noch keine andere Person erblickt, seit er sich auf dieses Areal verirrt hatte.
Um in den nächsten Raum zu gelangen, mussten sie eine der beiden Treppen hinaufsteigen und durch das Tor, welches sich direkt oberhalb der Eingangstür zu diesem Teil des Palastes befand, spazieren. Schweigend, die Pracht des Gartens genießend, folgte Lannus dem blassen, dürren Mann mit den Segelohren und den langgliedrigen Händen. Die Proportionen stimmten nicht überein, weswegen sein Aufzug – keine Maßanfertigungen, dachte Lannus bei sich – misslich und plump wirkte. Die weiße Bluse war zu knapp, während seine schmalen, kastanienbraunen Strumpfhosen unelegant an seinen krummen Beinen hingen und sich mehrere Male am Schienbein falteten. Lannus folgte seinem schweigsamen Führer durch den steinernen Bogen in den nächsten Saal.
Auch dieser war beinahe leer. Lediglich ein weicher, roter Teppich füllte den blanken Boden aus. An den Seiten des Raumes befanden sich jeweils sechs Türen und Lannus versuchte angestrengt eine Erklärung für ihre Existenz zu finden. Diesem Fanatiker traute er allenfalls zu, einen feuerspeienden Drachen hinter einer der Türen zu verstecken, um Eindringlinge abzuschrecken.
Lannus vernahm gedämpfte Stimmen. Sie drangen aus dem Saal, auf welchen sie geradewegs zu spazierten. Nun sah er auch, was er enthielt. Ein langer Tisch aus Granit, geschmückt mit einem aus Gold eingravierten Namen vor jedem Stuhl. An den Wänden standen dutzende Kerzen, eingeschlossen von kunstvoll verzierten Kästchen aus Kristallglas. Die Tür, durch die sie gekommen waren, schien der einzige Ein- und Ausgang zu sein.
Auf der gegenüberliegenden Wand des Zimmers paradierte ein kolossaler, schwarzer Seraph aus einem Lannus unbekanntem Gestein. Goldene Kugeln füllten die Augenhöhlen. Er maß sechs Schritte in der Höhe und drei in der Breite. Seine enormen Flügel ragten dem durch eine gläserne Kuppel ausgesperrtem Himmel entgegen. Lannus stockte der Atem, als er sich fragte, wo im Namen Eldanas‘ er gelandet war.
An dem imposanten Tisch standen zwölf Stühle. Jeder von ihnen eine einmalige Anfertigung, was mühelos an den merkwürdigen Mustern und den verschiedenen Intarsien auf den Lehnen zu erkennen war. An neun der zwölf Stühle hatten Personen Platz genommen, von welchen zwei an den beiden Tischenden ruhten, während auf der linken Seite vier saßen, ihnen entgegenblickend drei. Auf den ersten Blick erkannte Lannus zwei Frauen unter den Sitzenden. Der Dieb nahm an, dass die Gestalten an den Tischenden diese Sitzung, oder was auch immer dies sein mochte, führten.
Der Mann, der direkt im Schatten des Seraphen tagte, wirkte wie der Anführer und musste furchtbar alt sein. Tiefe Falten gruben Krater um seine Augen und seinen Mund; ein langer, grauer Bart hing von seinem Kinn herab. Bei Lannus‘ Anblick breiteten sich die Furchen bis zur Stirn des blassen Greises aus. Beinahe ein Dutzend Augenpaare richteten sich auf Lannus, als sei er ein fremdes Geschöpf, emporgestiegen aus dem Meer. Lannus‘ Wangen röteten sich. Mit Ausnahme einer der Frauen vermutete der Dieb, dass er die wenigsten Zyklen erlebt hatte.
Lannus zwang sich zur Ruhe.
„Ich möchte keine Bewegung sehen.“ Sein Begleiter wanderte zum Anführer und begann, ihm etwas ins Ohr zu flüstern, doch er sprach zu leise, als dass Lannus die Botschaft hätte mitbekommen können. Nach einigen Augenblicken entfernte sich der Flüsterer vom Ohr. Der graue Mann schien kurz zu grübeln, bevor seine Worte Lannus entgegenbrausten.
„Erzähl mir ein wenig von dir.“ Seine Stimme war kräftiger als Lannus vermutet hatte und verdeutlichte, dass man sich vor diesen Menschen in Acht nehmen sollte.
„Das ist nicht von Belang.“ antwortete Lannus, urplötzlich gereizt, entsetzt von seiner eigenen, respektlosen Antwort. „Ich weiß nicht einmal, wer ihr seid, oder wo ich bin.“ fuhr in einer ängstlichen, ruhigen Stimme fort.
„Wir, Lannus, sind die Streiter des Zirkels der schwarzen Serafim. Mein Name ist Teranon. Ich bin der Anführer dieses Zirkels. Wir wissen, dass unser Handeln nicht ruhmreich scheint. Wir sind Diebe, Räuber. Man könnte behaupten, wir seien gierig und unser Handeln sei schändlich, doch wir nehmen uns bloß zurück, was die reichen Adeligen dieser Stadt unseren Vorfahren nahmen. Unsere Familien wurden ausgebeutet und nun rächen wir uns.“ Das Gewicht des Schmerzes schien sich an der Stimme festzuklammern.
„Ich begreife euer Leid, doch bin ich kein Teil von euch.“ Lannus verstand nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich verlaufen und nun unterhielt er sich mit einem Fremden, der seinen Namen kannte.
„Du musst dem Zirkel nicht beitreten, wenn du nicht möchtest. Allerdings bietet er dir äußerst verlockende Vorteile wie Schutz, Reichtum oder Kontakte. Treffe deine Wahl mit Bedacht. Du kannst es hier zu größerem Ruhm bringen als auf der Straße. Ich weiß, dass du ein Räuber bist, Lannus. Ich kenne alle Diebe dieser Stadt.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand der Greis auf und eilte schnellen Schrittes zu der Statue des mit Ruß überzogenen Seraphen und stellte sich direkt vor sie, bevor er beschwörend die Hände erhob. Teranons Lippen spielten kaum merklich mit undeutbaren Worten, während seine Augenlider sich schlossen. Auf einmal bewegte die Statue ihren linken Arm, dann den Rechten. Sie packte sich mit beiden Flügeln an den Bauch und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Der Kopf des Seraphen senkte sich, als blicke er auf eine Wunde an seinem Magen. Die Hände öffneten eine verborgene Klappe, welche die scheinbaren Innereien der Statue offenlegte.
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