Die zwei kräftigen Arme spannten sich. Dante fand, dass er eine beachtliche Figur besaß. Exzellent beschaffen war er, hoch gewachsen, doch kein Riese. Seine Augen leuchteten in einem warmen Braun. Er besaß jedoch etwas zu schmale Lippen. Mittellanges, braunes Haar hing dem jungen Krieger in Strähnen von seinem Skalp in die Augen. Er schob seinen Unterkiefer ein wenig nach vorne, um sich der störenden Haare durch kräftiges Pusten zu entledigen. Abschneiden konnte er sie auf keinen Fall. Sie waren ein Zeichen seiner Männlichkeit. Als folgenden Gegner hatte Solúnis Loriel auserwählt. Ein schwächlicher, zahmer Junge mit sonnengebräuntem Gesicht. Runde, blaue Kulleraugen und volle Lippen verliehen ihm einen gewissen Charme. Dante wusste, dass Loriel ausgezeichnet bei den Mädchen ankam. Zuweilen beneidete Dante ihn für diesen unfairen Vorteil, doch dafür besaß Loriel keine Begabung mit der Klinge.
Die Sonne stach Dante unbarmherzig in die Augen. Er befand sich auf der falschen Seite des Kreises, in dem sie den Schaukampf austragen sollten. Wenn das Zeichen zum Angriff erklang, musste er versuchen, seinen Gegner auf diese nachteilige Seite zu drängen, oder zumindest einen der hohen Burgtürme in den Weg der Sonne zu schieben. Im windgeschützten Innenhof, in welchem der Unterricht täglich stattfand, gab es einige dieser Türme; Überbleibsel aus dem Krieg mit den Trollen. Nun stand ein weiterer Krieg vor den östlichen Toren.
Es begann. Sie umkreisten sich pirschend, wie zwei Raubtiere bereit zum Sprung. Loriel stach als Erster zu. Sein Rapier verfehlte Dante äußerst knapp, als dieser dem vorhersehbaren Stoß auswich. Geschickt konterte er mit einem Hagel aus rapiden Stichen auf diverse Körperteile. Loriel konnte sich glücklich schätzen, dass sie nur mit Holzschwertern übten, sonst wäre er nun, innerhalb weniger Herzschläge, durchlöchert worden. Dante grinste. Die Anderen waren keine Herausforderung mehr für ihn. Alle waren ihm unterlegen.
„Der Kampf ist entschieden.“ Solúnis musste Stolz auf Dante sein. Eines Tages, das schwor sich Dante, würde er den Elfen besiegen.
„Die heutige Stunde ist beendet, ihr dürft euch zurückziehen.“ begann der Elf mit bedächtiger, beinahe neugieriger Stimme. „Außer du, Dante. Ich habe Nachrichten für dich.“
Verwundert blickte Dante sich um. Er war versucht zu gehen, doch fiel ihm kein sinnvoller Grund dazu ein. Womöglich wollte sein Lehrmeister ihn bloß loben. Eins wusste er allerdings. Dass Solúnis bislang noch Niemanden zurückgehalten hatte. Es musste von ungeheurer Bedeutung sein und er würde sich dem stellen müssen. Was immer es sein mochte.
„Haltet ihn! Haltet den Dieb.“ schrie eine schrille Stimme hinter ihm. Die Beute entfernte sich in einem rasenden Tempo von ihrem früheren Besitzer. Grinsend blickte der Träger sich um. Dieser fette, alte Wirt würde sein Gold nie wieder in die Finger bekommen.
Nachdem Lannus in dem Gewirr aus Gassen untertauchte, erlaubte er sich eine flüchtige Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Er erhaschte einen ersten Blick in den Beutel, den er soeben glanzvoll ergattert hatte. Solch eine Menge Gold. Er konnte sich Waffen der legendären, zwergischen Schmiede kaufen, oder in eines der Hurenhäuser Mentéls einziehen. Oder er konnte es sparen. Nein, Letzteres eher nicht, doch die ersten beiden Optionen klangen äußerst verlockend.
Nun sollte er sich allerdings schleunigst aus dem Staub machen, sonst könnten seine himmlischen Träume binnen Sekunden dem feuchten, eisigen Dreck einer Zelle weichen.
Raschen Schrittes huschte Lannus durch die schmalen Gassen. Nach einigen Wendungen, gelangte er auf den öffentlichen Marktplatz mit einer Vielzahl kleiner und großer Stände, welche allerlei bunte Waren ausstellten. In der Menge befand er sich vorerst in Sicherheit. Seine Augen erspähten unzählige, exotische Schätze, seine Nase sog sich mit dem Duft ferner Orte voll. Trotz all der fremden Köstlichkeiten entschied sich Lannus für einen saftigen, roten Apfel in welchen er genüsslich hineinbiss. Endlich hatte der Hunger ein Ende; endlich besaß er Gold. Über die sich dadurch ergebenden Möglichkeiten musste er sich später den Kopf zerbrechen, denn vorerst sollte er ein wahrlich sicheres Versteck finden. Noch war ihm sein liebstes Metall nicht vollkommen gewiss.
Als Lannus vor einem Gasthof mit dem wenig-sagenden Namen "Zum Hufschmied" anhielt, um das verfallene, heimelige Gebäude näher zu betrachten, schlich sich die Vermutung, dass dies nicht der richtige Weg war in seinen Geist. Er überdachte flüchtig, ob er fortsetzen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Schließlich wollte er sein Gold nicht an irgendeinen anderen Räuber verlieren.
Hastig wendete er auf den Fersen und flüchtete eilig aus der zwielichtigen Gasse. Erst als der Dieb erneut zu einem Teil der Menschenmenge des Marktes verschwamm, fühlte er sich halbwegs sicher. Seine Schritte beruhigten sich, sein Herzschlag zog nach. Er fühlte sich überaus glücklich. Seine Sorgen zertrat er unter den abgetragenen Sohlen. Sollten die restlichen Bewohner ihn doch zweifelnd, angewidert und missmutig anstarren. Es gab Nichts, das Lannus seiner Freude berauben konnte.
Die nächste Gasse in die er einbog, wirkte weitaus nobler. Die Häuser stützten sich nicht morsch und zerbröckelnd auf die Schultern ihrer Nachbarn, sondern machten den Eindruck, als seien sie neu erbaut worden. Erstaunt blickte Lannus sich um. Er hatte seine gesamten vierundzwanzig Winter in Mentél verbracht, doch in diesen Bezirk hatte er sich noch nie verlaufen. Er fragte sich, wer in einer solchen Gegend hauste.
Die Häuser wurden stets prächtiger. Bald ähnelten sie eher den prunkvollen Palästen eines Königs als Gasthöfen und Wirtshäusern. Hier gehörte er nicht hin, dieser Ort gehörte den wohlhabenden, respektierten Menschen der Stadt. Doch, fiel Lannus mit einem breiten Grinsen ein, er war reich. Dennoch kroch ein mulmiges Gefühl in seinen Magen, dessen Knurren der Apfel fürs Erste bändigte. Hier gehörte er nicht hin. Der Dieb gedachte umzudrehen, entschied sich schließlich doch dagegen. Zur Sicherheit zückte er dennoch seinen Kurzdolch und versteckte seine linke Hand unter dem weiten, braunen Mantel, zerfressen von Motten und Alter.
Er stolperte stets tiefer den gepflasterten Weg entlang. Nach einigen hundert Schritten verbreiterte sich die Straße, um in einem enormen Tempel zu enden. Merkwürdig. Er schüttelte bereits seinen Kopf und kehrte um, als eine flüsternde Stimme ihn zurückhielt.
„Du bist hier nicht falsch, mein Freund. Glaub mir.“
Ein breites Grinsen schwebte gegenüber Lannus‘ Gesicht, nachdem er sich ruckartig zum Geräusch gedreht hatte.
„Ich – Ich habe mich wohl verlaufen. Ich wollte soeben wieder verschwinden.“ antwortete der Dieb zögernd.
„Mach dir keine Sorgen. Du siehst aus, als hättest du nichts Besseres vor. Folge mir.“ Der Unbekannte lächelte einladend.
Nach kurzem Zögern durchschritt Lannus das offene Tor, welches auf den immensen Hof des Palastes führte. Blumenbeete und sprießende, blühende Apfelbäume schmückten den Weg zu einer imposanten Tür aus Eichenholz. Springbrunnen in verschiedenen Formen und Größen prangten ohne erkennbarem Muster zwischen den Blumen. Wem auch immer dieser Palast gehörte, er musste ungeheuer wohlhabend sein.
Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte Lannus dem Fremden durch ein beeindruckend verziertes Portal in eine gewaltige Eingangshalle. Hier verharrten sie kurz.
„Wer lebt hier?“
Die simple Eleganz des Raumes beeindruckte Lannus zutiefst. Die Wände waren bis auf zwei eigenartige Gemälde – jeweils eines an der Wand rechts und links von ihrem Eintrittspunkt – leer. Während das eine die gesamte Stadt aus der Vogelperspektive zeigte, schmückte ein schwarzer Seraph mit zusammengeklebten Flügeln, aus der Froschperspektive beobachtet, das zweite Gemälde.
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