„Was sagst du da?“ Marlene setzte sich vor Schreck auf einen der kleinen Stühle. Draußen trat der Direktor zu den Reportern. Sophie Jürß gefiel sich weiter in ausladenden Gesten. Ihr Mann kam jetzt hinzu.
„Er war betrunken und schlief. Meine Mutter wollte nicht, dass ich das mit den Kaninchen sehe, da bin ich vor Wut ganz früh in die Dünen gelaufen. Sie hasst die Obdachlosen.“
„Das erfindest du jetzt, oder?“
Der Junge sah ihr noch immer direkt in die Augen. „Sie soll bitte endlich still sein, bitte.“
„Warum ich?“, fragte Marlene. „Warum erzählst du mir das?“
„Weil Sie nett sind“, sagte Üffes.
Marlene schlug die Hand vor den Mund und sah, wie sich draußen am Tor zum Schulhof eine heftige Diskussion entwickelte.
„Werden Sie mich verraten?“, wollte Üffes wissen und drängte sich in die hinterste Ecke des Klassenzimmers.
Marlene sah ihn sprachlos an. „Und dein Vater?“
„Der ist mein Stiefvater. Der hat nichts zu sagen.“
Marlenes Handy meldete eine neue SMS. Ich kann für zwei Tage kommen, stand da. Klaus sei jetzt einverstanden.
Schwerfällig und ächzend erhob sie sich. „Ich muss nachdenken“, sagte sie und rieb sich die Schläfen.
„Lassen Sie mich nicht im Stich!“, bat Üffes, dann lief er zur Tür hinaus und über den Schulhof. Marlene öffnete ein Fenster. Sophie Jürß rief vergebens nach ihrem Sohn.
Leck mich, antwortete Marlene auf die SMS, dafür gibt es eine Tastenkombination.
„Er hat nicht einmal frühstücken wollen“, schrie draußen Sophie Jürß dem Direktor entgegen. „Er war kreidebleich vor Angst.“
„Kinder sind robuster, als Sie meinen“, verteidigte sich der Direktor und war schon in die Defensive gedrängt. Der Mechanismus ist bekannt.
Die Reporter gingen ihrem Geschäft nach. Wie Diebe nahmen sie jedes Wort auf und schossen Fotos von allen Seiten, um später beides zu verkaufen. Nun kam noch ein Fernsehteam von einem lokalen Sender hinzu, die müssen auch sehen, wo sie bleiben.
„Im Namen aller Mütter“, schrie Sophie Jürß in die Kamera, „verlange ich, dass das getötete Kaninchen nicht auch noch gegessen wird. Niemand sollte morgen zu diesem Grillfest gehen. Das ist barbarisch.“
Marlene schloss das Fenster. Gerhard kam herein. „Sie haben Fußspuren von Kindern in den Dünen gefunden und kleine Fingerabdrücke an dem Stein“, sagte er. „Und wenn es nun einer unserer Schüler war? Man wird uns lynchen!“
Sophie Jürß stürmte herein, die Reporter hinter sich herziehend. Sie rief nach Üffes. Er sei zum Strand gelaufen, sagte Marlene. „Weil er das Geschrei der eigenen Mutter nicht mehr erträgt“, fügte sie hinzu, aber Sophie Jürß hatte keine Zeit für solche Feinheiten. Sie winkte den Reportern, ihr zu folgen.
Marlene hatte lange genug nachgedacht. „Es war Üffes“, sagte sie zu Gerhard. „Er hat es mir gesagt. Wo würde er sich verstecken?“
„Am See“, sagte er und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Am Strand sind viel zu viele Leute. Zieh dir feste Schuhe an.“
„Dann komm“, sagte Marlene und zog ihn mit sich.
Der Conventer See und die umliegenden Salzwiesen entwässern sich über die Jemnitzer Schleuse in die Ostsee. So wird auch die Niederung vor Hochwasser geschützt, sofern es nicht von oben kommt.
„Da hinein?“ fragte Marlene. Ihr Kleid war mittlerweile völlig ruiniert. „Das ist ein Naturschutzgebiet.“ Vom flachen See war hinter dem Röhricht nichts zu sehen. Ein schlammiger Feldweg führt von der Schleuse über die Salzwiesen bis Doberan. Büsche und Bäume ragten hier und da aus dem Schilf hervor und lassen auf trockenen Boden hoffen. Gerhard führte sie durch wadentiefes Wasser zu einem Baum und dort, tatsächlich, saß Üffes auf einer Bank, die sich die Kinder aus Steinen und einem Brett gefertigt hatten. Es gab mehrere solcher Bänke und in der Mitte befand sich ein Grillplatz.
„Sie haben mich verraten!“, schimpfte Üffes, als er Marlene sah.
„Das wolltest du doch“, antwortete sie. „Ich bin nett, erinnerst du dich?“
Sie setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme. Der Junge ließ es geschehen, aber weder weinte, noch schluchzte er. Üffes tat sich nicht selbst leid, was erstaunlich erwachsen wirkte.
Gerhard setzte sich den beiden gegenüber und sprach kein Wort. Die Luft war voll mit dem Schreien der Stare, die in ganzen Schwärmen hin und her flogen. Keine Möwen, wie an der See zu vermuten. Es roch nach Gras und nicht nach Meer. Der Wind spielte im Schilf. Gerhard zog an einer Schnur, die neben seiner Bank vertäut war, und aus dem Wasser tauchte ein Netz voller Flaschen mit gut gekühlten Getränken auf.
„Was jetzt?“ fragte Üffes und nahm sich ein stilles Wasser.
„Deine Mutter?“, schlug Marlene vor.
„Niemals. Bitte nicht.“
„Dann die Polizei. Sie werden uns helfen.“
Der Junge nickte und trank. „Lieber gehe ich ins Gefängnis. Da kommt sie mir nicht nach.“ Plötzlich waren vom Feldweg her Stimmen zu hören. Üffes erschrak, als er die seiner Mutter erkannte. Ein anderer Junge hatte ihr den Weg gewiesen und die Reporter trieben sie. Sie rief seinen Namen: „Üffes! Bist du hier?“
„Was jetzt?“ Diesmal war es an Marlene, diese Frage zu stellen.
Der Junge blühte förmlich auf, weil er die Antwort wusste: „Kommen Sie!“ Und als auch Gerhard sich erhob, flüsterte er: „Nur einer!“
Üffes zog an einem weiteren Seil und ein altes Surfbrett erschien, es war vollständig von Algen überwachsen, schwamm aber noch.
„Da drauf?“, fragte Marlene ungläubig.
Üffes nickte aufgeregt „Der See ist nur ein paar Zentimeter tief. Es ist nicht weit.“ Er half Marlene aufzusitzen, und schnell waren sie im Röhricht verschwunden. Vielleicht zweihundert Meter weit paddelten sie über offenes Wasser, dann war eine kleine Bucht erreicht. Die Luft war voller Insekten. Marlenes Füße stießen immer wieder an Pflanzen, was ihr sehr unangenehm war. Die merkwürdigsten Vögel waren zu sehen, aber sie hatten kein Auge dafür. Triefend nass stiegen sie schließlich an Land, und Marlene fand sich im Garten eines Hauses wieder, das nach Friedensreich Hundertwasser benannt war. Ihr Hotel lag gleich nebenan.
Hinter ihnen hatte Sophie Jürß den Grillplatz erreicht und kreischte, als sie Gerhard sah, sodass sich alle Vögel erschraken. „Wo ist er?“ schrie sie und stürzte sich auf ihn, dass er stolperte. Sie drückte seinen Kopf tief unter Wasser, bis ihr Mann hinzukam und sie zurückhielt.
Gerhard sog gierig die Luft ein. „Zur Polizei“, schnaufte er, als er sich beruhigt hatte. „Da ist er sicher.“
Die Reporter standen dabei und sahen zu. Ihre Aufgabe liegt im Berichten. Sie sind strikt ohne Schuld, man erwartet von ihnen keine Hilfe. Sophie schlug die Hände vor den Mund und kämpfte sich durch das Schilf zurück auf den Weg.
Marlene versorgte Üffes im Hotel mit trockener Kleidung, dann fuhr sie mit ihrem Pedelec zur nächsten Polizeistation. Der ermittelnde Beamte erwies sich als sehr verständnisvoll. Er ließ Üffes von einer zivilen Streife abholen, sodass die Presse nichts erfuhr. Man informierte die Eltern, dass der Junge gefunden sei und dass das Jugendamt sich um ihn kümmern werde. Marlene blieb den ganzen Tag bei ihm, bis sie sicher war, dass es ihm gutging.
Irgendwann fand sie die Zeit, Beate eine versöhnliche SMS zu schicken.
Sophie Jürß wurde im Ort tagelang nicht mehr gesehen. Die Zeitungen empörten sich am nächsten Morgen über das in der Schule getötete Kaninchen, aber es klang kleinlauter, als man erwartet hatte. Gelegentlich wurde im Ort sogar Verständnis geäußert für den aufrechten Direktor und seinen Lehrer. Auf der Titelseite berichtete man über den Mord. Der entlaufene Junge sei schnell gefunden worden.
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