„Ihr Arschlöcher!“, begann Barbara unflätig wie schon früher am Abend. „Für euch gibt es nie wieder ein Eis in der Stadt!“ Sie ging direkt auf die Gestalten zu, ihrem Pfefferspray nach, Thomas folgte ihr.
Das Gas schien in der kalten Luft zu gefrieren und bewirkte nichts als ein amüsiertes Gemurmel unter den Lumpen. Es bildete sich eine kleine Pfefferwolke, weit genug von ihnen entfernt, die sofort zu Boden sank und sich auflöste, bevor sie Schaden anrichten konnte. Der Kreis um Barbara und Thomas schloss sich, der Junge mit der gelben Pudelmütze trat hervor. Er trug einen Baseballschläger, holte kurz aus und rammte ihn Barbara in den Bauch, sodass sie zusammenklappte wie eine Marionette und stumm zu Boden fiel. Der Junge spuckte auf sie, als sie am Boden lag, das schien ihm besonderen Spaß zu machen.
Die Lumpen ließen jetzt ab. Sie zogen sich höhnisch lachend zurück. Thomas sah sich unschlüssig um. Es war niemand zu sehen, der ihm helfen würde.
Schließlich setzte er den Jungen nach. Ein paar Schritte nur, und er fasste dem Anführer an die Schulter.
Der Junge drehte sich um: „Was willst du?“ Er schien überrascht.
Da zog Thomas den Schraubenzieher aus seiner Tasche und rammte dem Jungen das Metall bis zum Heft in den Hals. Die anderen Gestalten wichen zurück, als ihr Anführer zu Boden sank, und verschwanden im Dunkel. Der Junge griff sich an den Hals, röchelte und blieb dann spastisch zuckend liegen. Thomas spuckte auf ihn, wie er es gelernt hatte, und kümmerte sich um Barbara.
Minuten später nur wimmelte es von Rettungskräften und Polizei. Man versorgte erst den Jungen, dann die verletzte Frau. Nach und nach kehrten immer mehr der Jungs in das grelle Licht zurück, das den Weg jetzt erhellte. Sie weinten meist und waren außer sich. Das hätten sie nicht gewollt.
Thomas wurde verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Zwei oder drei der Halbwüchsigen besaßen keinen deutschen Pass, deshalb spekulierten die Zeitungen am nächsten Morgen über fremdenfeindliche Motive auf der einen oder anderen Seite. Kann ja sein.
Thomas schwieg jetzt wieder. Er schwieg auch, als man ihn ins Gefängnis warf. Er schwieg für sehr lange Zeit.
Die Idee zu dieser Geschichte kam mir Ende Februar 2003. Ich saß spät abends in der Eisdiele meiner Geburtsstadt Versmold. Damals eine wirkliche Institution der Stadt. Jenseits der Schaufensterscheibe drängten sich die Leute im Dunkeln, um von der Kirmes nach Hause zu gehen. Ein paar Jungs tobten im Alkoholrausch. In den USA stand George W. Bush kurz davor, den dritten Golfkrieg zu beginnen, und ich war in der Stimmung, um über die Frage zu grübeln, wie mit der allgegenwärtigen Gewalt umzugehen sei. Die Geschichte war ursprünglich genau halb so lang, wie sie jetzt ist. Thomas sollte sich fast demütig fügen. Er sollte keinen Krieg beginnen. Doch später hatte ich das Gefühl, er müsse noch einmal zurückgehen. So wurde es stimmig. 2008 wurde der Text vom Pendragon Verlag in der Anthologie MORDWESTFALEN veröffentlicht.
Heiligendamm 1: Üffes lernt Schlachten
All die Touristen und auch ein paar Ortsansässige starrten fassungslos auf die Bushaltestelle, an der die Leute in Börgerende aussteigen, wenn sie dort zum Strand wollen. Ein trister Betonverschlag bietet Schutz vor schlechtem Wetter, innen hellblau gestrichen und hellgrün beschmiert. Die hintere Ecke links war verrußt, die rechte voller Blut. Jemand hatte ein Kaninchen geschlachtet, gegrillt und am Ende noch gegessen. Nur die Knochen waren übrig geblieben, ein paar Innereien und das Fell. Die Leute empörten sich und riefen die Polizei. Mitten im Ort!
„Da hatte jemand Hunger“, sagte ein Mann und erntete böse Blicke. Diese Sicht schien dem Fall nicht angemessen.
Das Gefährlichste an der Ostsee, so war es Marlene Brinkmann zunächst vorgekommen, ist der Nacktbadestrand schräg gegenüber dem Hotel. Es gibt hier keine Ebbe und keine Flut, die das Leben bestimmen. Die Fischerboote werden gerade so auf den Strand gezogen und dort vertäut. Man glaubt sich sicher: Da kommt nichts Böses von See.
Und tatsächlich: Es kommt von Land.
Marlene erkannte einen Jungen unter den Leuten und grüßte ihn mit erhobener Hand. Üffes war sein Name, sie hatte ihn tags zuvor kennengelernt, gleich nach ihrer Ankunft, als er ihr neues eBike bewunderte, ein Pedelec, in das man selbst ordentlich tritt um dafür elektrischen Rückenwind zu bekommen.
„Wie schreibt man deinen Namen?“, hatte ihn Marlene gefragt und ihm einen Zettel gereicht.
„Yves“ notierte der Elfjährige in einer schon recht eigenwilligen Handschrift. In der Schule habe er den Namen an die Tafel schreiben müssen, erklärte er, aber niemand hatte gewusst, wie man ihn aussprach. Als Lehrerin hatte Marlene herzlich gelacht. Der Junge machte ihr Spaß.
Jetzt kam er zu ihr herübergelaufen. „Haben Sie gesehen? Da hat jemand ein Kaninchen geschlachtet.“ Er gebot über ein sehr entwaffnendes Lächeln und sah ihr direkt in die Augen. „Ich suche in den Dünen. Vielleicht finde ich noch was anderes.“
Marlene ging nun ebenfalls. Sie hatte sich in einem gutbürgerlichen Strandhotel eingemietet, dem einzigen dieser Art im sonst bäuerlichen Börgerende. Ihr Urlaub von all den Kindern und deren Eltern hatte begonnen. Sie war mit einer Freundin verabredet, beide waren derzeit solo, aber Beate war noch nicht eingetroffen. Marlene wartete. Sie war halb verrückt vor Freude auf die gemeinsamen Tage und voller Pläne. Es war früher Morgen, der letzte Schultag in Mecklenburg, und sie plante ihren ersten Fahrradausflug. Sie trug einen dunkelblauen Rennanzug, von dem sich ihr fuchsrotes Haar leuchtend abhob, dazu Helm und Fahrradschuhe, was unter den eher schlicht gekleideten Leuten schnell auffiel. Marlene war Ende dreißig und hatte ein ernstes Gesicht, das ganz plötzlich zu reiner Freude und Herzlichkeit wechseln konnte. So, als geschähe das sehr bewusst.
Es hatte eine Woche lang fast pausenlos geregnet und der Boden war schlammig, er wollte kein Wasser mehr aufnehmen. Viele Straßen hatte man wegen Überflutung sperren müssen. Als sie sich nach einer guten Stunde auf dem Heimweg befand, waren die Wege am Ufer der Ostsee voll mit Menschen zu Fuß oder auf dem Rad. Man fuhr hintereinander her, was Marlene nicht leicht fiel, da ihr Pedelec schneller war als alle anderen. Sie hielt sich sehr zurück und vermied jedes Drängeln, aber vor geraumer Zeit schon hatte sie zu einem Paar aufgeschlossen, das vor ihr fuhr. Die Frau drehte sich mehrfach um und winkte sie schroff vorbei. Marlene verzichtete freundlich. Sie hatte es nicht eilig.
Zwischen Nienhagen und Börgerende kamen sie in den Gespensterwald. Ein enger Weg windet sich dort zwischen den Buchen hindurch. Es sind Windflüchter. Bis auf die Wipfel sind sie kahl. Sie beugen sich landeinwärts, weg vom Wind. Der Boden war stellenweise so schlammig, dass die Räder keinen Halt fanden. Alles eine Frage der Balance, aber nicht einfach zu fahren. Oft kamen ihnen Leute entgegen.
Schließlich erreichten sie eine besonders enge Stelle zwischen zwei Bäumen hindurch. Marlene hielt an. Die Frau vor ihr fühlte sich dennoch gedrängt. Sie kämpfte mit dem Gleichgewicht und musste abspringen. Sie trug hochhackige Sandalen, was zum Fahrradfahren nicht die beste Wahl ist. Bis zu den Knöcheln versank sie im Schlamm und raffte ihr langes Sommerkleid, die Beine darunter waren dicht behaart.
Marlene dagegen, tiefbraun gebrannt, stand aufrecht neben ihrem Pedelec. Beide hatten ungefähr das gleiche Alter.
„Unverschämt!“, schrie die Frau vor ihr und drohte mit der Faust. „Rücksichtsloses Drängeln!“ Sie heulte vor Wut, und fast sah es so aus, als wollte sie sich trotzig in den Schlamm setzen, um jede Vernunft zu verweigern. Sie wies auf Marlenes Fahrrad und rief: „Ein eBike, deswegen! Das ist unfair. Sie sollten sich schämen, uns so zu hetzen!“ „Fahren Sie!“, drängte der Mann von vorne und winkte Marlene zu. „Ich bitte Sie! Fahren Sie voraus.“
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