Sie hatte ihren Mann ebenfalls bemerkt. Einen Moment lang schien die Stille die Jahrmarktsmusik verscheuchen zu können.
„Lass die Ware in Ruhe!“
Der Mann war kaum größer als Thomas, aber jünger. Die schulterlangen blonden Haare und die Bartstoppeln gaben ihm das Aussehen eines gealterten Hippies, und die Lammfellweste passte dazu. Der Mann stand ganz dicht vor Thomas, der nicht umhinkonnte, den säuerlichen Geruch nach Schweiß einzuatmen.
„Lass den Mann in Ruhe!“
Der Ehemann wartete, schaute ihm ruhig in die Augen und rührte sich nicht. Auf Thomas‘ Gesicht machte sich der friedliche Ausdruck breit, den man bei Leuten findet, die die Gewalt über ihren Schließmuskel zu bewahren suchen. Jeder unglückliche Windstoß, so schien es, konnte den Mann dazu veranlassen, sich auf ihn zu stürzen.
Bis die Frau sich still entfernte. Da war es plötzlich, als ob der Mann lächelte. Das Gesicht vor Thomas’ Nase nahm den gebührenden Abstand ein und entspannte sich.
„Sie ist weg!“, sagte der Mann. „Lauf zu! Ich räum das hier auf.“ Er gab Thomas einen Schlag auf die Schulter, drückte seine Hand und führte ihn vorsichtig durch die Gefäße.
Kopfschüttelnd, die Hände tief in den Manteltaschen und den Kragen hochgestellt, wollte Thomas nach Hause stapfen. Es war spät genug. Er schwieg immer noch, aber jetzt schien es passend und nicht mehr fremd, eine annehmbare Geisteshaltung. Im Rinnstein fand er einen Schraubenzieher, den jemand verloren hatte, und steckte ihn in seine Manteltasche, damit sich niemand daran verletzen konnte.
Aushalten, hatte Andreas gesagt.
Drei von den Jugendlichen, die er in der Eisdiele getroffen hatte, kamen ihm entgegen. Einer spuckte Thomas ins Gesicht, ein anderer rempelte ihn hart mit der Schulter an.
Thomas blieb einen Moment stehen, sah sich um, rieb sich den Arm und wischte sich die Spucke weg. Die Jugendlichen sahen ihn böse an, machten aber keine Anstalten, ihn anzugreifen. Sie waren zufrieden mit sich. Thomas erkannte den Jungen aus der Zeitung, den mit der gelben Mütze.
Da ging er einfach weiter, als wolle er sich in seinen Gedanken nicht stören lassen. Die Kellnerin kam ihm in den Sinn. Kurz entschlossen änderte er seine Pläne und ging zurück zur Eisdiele, um sie mit neuem Mut anzusprechen.
Sie hatte den Boden gefegt und war fertig zum Gehen.
„Soll ich dich nach Hause bringen? Es ist kalt und die Kerle von vorhin laufen in der Stadt herum.“
„Sollen musst du nicht“, sagte sie fröhlich, „aber dürfen darfst du.“ Sie zog einen warmen Mantel an und hakte sich bei ihm unter. „Warum sprichst du nicht?“
„Ich spreche doch.“
„Ja, aber nur so zugeklebt. Man versteht dich kaum.“
„Wenn ich rede, dann verstehen die Leute mich noch weniger“, sagte Thomas.
Sie lachte und rief: „Ach was! Komm, ich wohne am Stadtrand. Fast im Bruch.“ Das ist ein Naturschutzgebiet, um das heftig gestritten wird, weil es die Stadt nach Südosten hin fast isoliert. Vögel wohnen dort.
Leute kamen die Straße hinuntergerannt. Wieder die Jugendlichen, Kinder noch, verfolgt von ein paar Erwachsenen, die nicht schnell genug waren. Aus der anderen Richtung zerschnitt ein Martinshorn die Nacht, grelles Blaulicht zerrte dunkle Ecken für Sekunden in den Bereich der unabsichtlichen Wahrnehmung. Ein Rettungswagen fuhr vorbei, dann die Polizei, Sekunden nur, nachdem sie alarmiert worden waren. Man hatte sich gut vorbereitet. Was soll man auch sonst tun?
„Das Riesenrad!“, rief Barbara. „Dem Andreas ist etwas passiert!“
Sie kannte Andreas. Sicher aß er ab und zu ein Eis bei ihr.
„Er hat sich gestern in die Prügelei eingemischt.“
Sie zwängten sich durch die Leute, die vor dem Riesenrad standen. Der warme Geruch des menschlichen Lebens mischte sich mit der kalten Luft. Von unten zog es ihnen feucht die Beine hoch.
„Ein Messerstich“, hörte Thomas rufen. Er sah nichts. „Man hat ihn mit dem Messer erstochen.“
„Aber nein“, rief jemand anderes. „Er lebt noch. Sonst würde man ihn nicht in den Krankenwagen laden.“
Dann sah er ihn. Andreas war auf eine Trage geschnallt. Ein Sanitäter hielt die Infusionsflasche am langen Arm in die Luft. Sehr professionell das alles. Blaulichter schnitten die Szene wieder und wieder aus der Dunkelheit heraus. Die Frau von der Lokalpresse war zur Stelle und machte ihre Bilder. Auch sie war bereit gewesen. Ihr Foto würde am nächsten Morgen die ganze Veranstaltung überschatten, das war ihr Beruf. Auch Passanten hatten die Handys gezückt, obwohl es kaum genug Licht gab.
Andreas schlug kurz die Augen auf, als man ihn an Thomas vorbei trug, und griff nach dessen Hand.
„Es ist überall das gleiche“, sagte er.
„Aber warum?“, fragte Thomas.
„Das wissen wir nicht“, sagte einer der Sanitäter. Andreas nickte zustimmend.
All das soll man aushalten. Thomas drängte Barbara aus dem Licht heraus. Er wollte nicht zu den Gaffern gehören.
„Das waren die Jungs“, sagte Barbara.
Thomas nickte. Kinder, die nicht wissen, was sie tun.
Der Stand mit den Töpferwaren lag nur ein paar Meter weiter. Die Frau saß auf dem kalten Boden neben ihrem Mann. Die Mütze mit den Ohrenklappen hatte sie abgesetzt, die Haare waren nun ganz wirr. Dem Mann hatte man den Kopf verbunden. Eine klaffende Wunde, die Lammfellweste war blutverschmiert. All die schönen Gefäße waren zerschlagen. Ein Baseballschläger aus fein gemasertem Holz lag zwischen den Scherben. Auch in den Kartons hatten sie so gewütet, dass größtmöglicher Schaden angerichtet worden war.
„Der Andreas“, sagte die Frau, als sie Thomas erblickte, „der hat uns helfen wollen.“
Thomas bückte sich, um ein paar Scherben aufzuheben, aber die Frau scheuchte ihn unwirsch weiter. Eine Bewegung ihrer Hand schickte ihn fort.
„Komm!“ Barbara zog ihn mit sich.
Die Straßen, durch die sie jetzt gingen, waren leer bis auf einige Schausteller, die ihre Stände zusammenpackten. Die Stadt lebt von den vielen Wurstfabriken, die hier zu Hause sind. Im Zentrum findet sich ein hübscher Brunnen, der ein paar Schweine zeigt und einen Fleischer mit seinen Würsten. Dort lungerten noch ein paar Betrunkene herum. Thomas reichte ihr seine Hand und Barbara nahm an. Die Fenster in allen Häusern waren schwarz, als ob sie sich abwendeten. Nirgendwo ein Licht. Die Schritte hallten von den Häusern wider. Die beiden folgten der Berliner Straße stadtauswärts und kamen so bis an den Friedhof.
„Hier lang“, sagte Barbara. „Hier müssen wir durch, sonst ist es ein riesiger Umweg.“ Sie folgten einem asphaltierten Weg, der sich durch die Gärten und an der Friedhofshecke vorbei wand. Über ihnen spannte sich ein weiter Himmel voll heller Sterne. Die Luft schien hier kälter zu werden, ob aus den dunklen Gräbern oder vom platten Land her, das dahinter lag, ließ sich nicht sagen. Thomas griff ihre Hand ein wenig fester und Barbara lächelte ihn an.
„Mit mir haben die Kerle auch noch eine Rechnung offen“, sagte sie, „aber keine Angst, ich habe Pfefferspray dabei. Das ist legal, keine verbotene Substanz.“
Am Ende des Weges, dort, wo sie fast das Licht erreichten, stand jemand und wartete.
„Da sind sie“, sagte Barbara. „Sie wissen jetzt wohl, welchen Weg ich nehme. Moment ...“ Sie suchte in der Handtasche nach dem Pfefferspray, während der Schatten ihr den Gefallen tat, zu warten. „Hier ist es!“
Vor dem Licht am Ende des Weges fanden sich jetzt weitere Schatten zusammen und hinter den beiden konnte man Schritte hören. Die Hecken rechts und links waren zu hoch und auch jetzt im kahlen Winter zu dicht gewachsen, um sie zu überwinden.
„Kann es sein“, sagte Barbara, „dass die hier wohnen?“
Thomas sprach weiter kein Wort. Das flaue Gefühl in seinem Gedärm wich einer dumpfen Wut, die ihm viel besser gefiel. Sie hat schwarze Segel, die man setzen und in den Wind zerren kann. Das waren doch Kinder, die dort warteten, Halbwüchsige, keine Männer!
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