Beim Abendessen brodelte Aufregung in der Messhall. Es war bekannt geworden, dass Wuntram erst am Nachmittag den Entwurf seines Wahlaufrufs mit der Maßgabe zurückerhalten hatte, einiges zu streichen oder zu ändern, falls er Wert auf das Erscheinen lege.
Hesse aß neben Ede. Helowa saß ihnen gegenüber. Sachlich fragte Helowa. "Schweinerei, was?"
Ede strich sich mit dem Daumen über seinen kurzen Nasenrücken. "Es wäre nützlich, zu wissen, wer der wirkliche Gönner Klees ist. Natürlich steht auch Stircke auf die Soldatenmasche, welcher Camp-Commander nicht? Aber für all die Stücklein scheint er mir zu bequem."
"Und zu liberal", ergänzte Helowa.
"Also gibt es eine graue Eminenz hinter den Kulissen", schlussfolgerte Hesse.
Helowa stocherte missmutig auf seinem Teller herum. "Wir werden noch lange genug hier sein, um es rauszukriegen."
Nach dem Abendessen gingen Ede und Hesse wieder in die Theaterwerkstatt. "Drück den Daumen, Heinz", sagte Ede, "dass es klappt: Wuntram als einziger Kandidat gegen Klee."
Den Lärm des Werkelns und Hämmerns übertönte eine Stimme: "Achtung!" Überrascht schauten die PWs auf und nahmen Haltung an. Oberst Stircke war mit zwei Offizieren eingetreten. Aufmerksam sahen sich die Drei im Raum um. Ede trat auf den Camp-Commander zu. "Elf Prisoners of War bei der Anfertigung von Propagandamaterial für die Wahl ihres Lagersprecherkandidaten Wuntram."
"Angestrengte Freizeitbeschäftigung, wie?" erkundigte sich Stircke.
"Angestrengt, aber fröhlich, Sir", erwiderte Ede.
Der Colonel gebot weiterzumachen und begann einen Rundgang durch die Werkstatt. Die beiden anderen Offiziere blieben bei Ede stehen. Der jüngere der beiden, ein Captain, war groß, füllig und schwarzhaarig. Der Ältere, ein Major, war kleiner als Stircke und mochte etwa fünf Jahre jünger sein als der Colonel. Die leicht seitwärts geneigte Kopfhaltung war das Charakteristischste an ihm. Es sah aus, als betrachtete er ständig alles aus bewusster Distanz und lauschte aufmerksam in die Welt. Freundlich fragte er Ede: "Sie haben die Erlaubnis vom Camp-Commander, hier ihr Wahlmaterial zu fabrizieren?"
"Auch die Anhänger der andern beiden Kandidaten müssen ihre Wahlplakate in irgendeiner Baracke anfertigen, und mir ist nicht bekannt, dass sie dafür extra um Erlaubnis nachgekommen sind, Sir."
"Die andern tun das in ihren Kompaniebaracken, die Theaterbaracke ist meines Wissens ein Raum für das ganze Camp."
"Selbstverständlich können die beiden anderen Gruppen ebenfalls für ihren Kandidaten hier arbeiten. Bis jetzt haben sie diesen Wunsch nicht geäußert."
Der Major blieb weiterhin freundlich. "Der Zeichenkarton, die Farben und Pinsel, all das gehört dem Theater?"
"No, Sir. Das haben die Kameraden vom eigenen Geld in der Kantine gekauft. Material für die Theatergruppe soll erst in den nächsten Tagen geliefert werden."
"Sehr schön - da wird die Theaterbaracke endlich ihrem eigentlichen Zweck dienen."
"Sie tut es bereits, Sir. Wir probieren hier schon jeden Tag." Ede wies auf das mit Decken geschützte Klavier, das aus der Basketballhalle herübergeschafft worden war. "Darf ich Ihnen die Dekorationen für den Kabarettabend zeigen?" Ede machte eine einladende Geste zur Wand hin, an der Versatzstücke und Kulissenteile lehnten.
"Danke, ich sehe." Der Major winkte ab. "Auch das ist aus eigenen Mitteln hergestellt worden?"
"Sehr wohl, Sir."
Der Camp-Commander hatte seinen Rundgang beendet und trat zur Gruppe. Auf einen fragenden Blick des Majors antwortete er mit einem kaum merklichen Kopfschütteln. Dann wandte er sich an Ede. "Sehr aktiv sind Sie hier, außerordentlich aktiv."
Es klang eher nach Vorwurf, doch Ede nahm es als Lob und strahlte Stircke an. "Thanks, Sir."
Betroffen über so viel Naivität, wandten sich die drei Offiziere zum Gehen. Ede brüllte: "Achtung!" und die Tür klappte.
Ein Schwall von Fragen und Vermutungen wollte aufbranden. Ede legte den Finger auf die Lippen. Die Vorsicht war berechtigt. Kurz darauf schaute der Oberst noch einmal herein und rief Ede zu, alles Wahlmaterial habe er künftig im Headquarter vorzulegen.
Kaum war Stircke verschwunden, als Necke knurrte: "Das hat der Schiefkopp ausgeheckt."
Alle waren der gleichen Meinung. Wie ein beschwichtigender Lehrer klatschte Ede in die Hände. "Keine Panik, Jungs, macht weiter."
Helowa, Ede und Hesse waren die Letzten, als der Theaterleiter kurz vor zehn die Baracke abschloss. "Vorhin haben wir erst darüber gesprochen", sagte Ede, "jetzt wissen wir, wer die graue Eminenz ist."
Helowa blickte fragend. "Der stille Captain?"
"Das war der Lagerkaplan. - Nee, Freunde, der Hauptmanager ist der Schiefkopp. Er hat mich regelrecht verhört, hat beweisen wollen, dass unsere Wahlarbeit hier unrechtmäßig ist."
"Wahrscheinlich der verantwortliche Intelligence-Officer", mutmaßte Helowa.
"Vielleicht ist es auch der Stellvertreter Stirckes", warf Hesse ein, "ein ähnliches Prachtexemplar von Major war Vajola, der Commander-Stellvertreter in McLoin."
"Wie auch immer", sagte Ede, als sie sich trennten, "der Schiefkopp hat Haare auf den Zähnen."
Hesse lief am nächsten Abend Bauer, Leitz und Buschinski in den Weg. Deren Mienen strahlten. Bauer forderte Hesse auf, zu Wuntram mitzukommen.
Ein wenig unwirsch, jetzt noch gestört zu werden, erwiderte der Lagersprecher den Gruß der Eintretenden.
"Zecke verzichtet zugunsten Wuntrams!" Fast gleichzeitig platzten die Drei mit der Nachricht heraus.
Kressert fuhr auf seinem Tippschemel herum. "Das ist die Wahlbombe!"
Wuntram tat erfreut, obwohl er erschrocken war. Er hatte fest damit gerechnet, dass die Anhänger Zeckes auf ihrer Extratour beharren würden. Die Spaltung hatte ihn eindeutig vor dem Headquarter von den Radikalen distanziert, auch ohne sie hätte er die Wahl knapp gewonnen, glaubte er. Mit dieser Entscheidung hingen sie ihm wieder an, ihre künftigen Forderungen würden nun mit dem Gewicht vorgetragen werden: Wir haben dich gewählt. Während Wuntram diese Überlegungen durch den Kopf gingen, tat er, als hätte ihm die Überraschung etwas den Atem genommen. Er beeilte sich zu sagen: "Das wird eine sensationelle Mitteilung morgen früh beim Appell."
Sie ergingen sich freudig in Prophezeiungen, dann merkten die vier, dass Wuntram darauf wartete, weiterarbeiten zu können. Sie verließen den Raum, draußen entschuldigte sich Bauer bei Hesse, dass er noch viel für morgen vorbereiten müsse, Leitz und Buschinski verabschiedeten sich ebenfalls hastig, und Hesse stand allein im Dunkeln. Er empfand es kaum, die Genugtuung über die schallende Ohrfeige für Klee hatte ihn elektrisiert. Politik hin - Politik her, dieser Mann durfte nicht gewinnen, der Beschluss der Leute um Zecke bedeutete Klees Niederlage. Noch nachträglich verübelte Hesse dem Zwölfender, dass dessen Wahlaufruf ihn zu einer Unüberlegtheit verführt hatte. Glücklicherweise hatte sie kein Nachspiel, die PWs in der Baracke nahmen an, ihre Unterkunft wäre übersehen worden. Die einsame Wanderung durch das Camp machte Hesse nicht ruhiger. Woher nahm der Klee die Stirn, das alte Spiel hier im Antinazilager weiterzuspielen? In Klee hasste Hesse den Barras. Klee war gleichbedeutend mit Seelenvergewaltigung, mit Mord, Brand, Unrecht auf Befehl. Und Klee war Synonym für Malleck. Ohne die Klees kein Barras, ohne Barras keine Mallecks. Die Mallecks waren Mörder, die Klees ihre Anstifter. Sie alle bedrohten ständig die Menschheit. Eine Pest - schlimmer als die Pest. Woran lag es, dass es so schwierig war, dieses Übels Herr zu werden? Die Menschen wehrten sich doch sonst gegen ihre Feinde. Im Rattenfangprojekt erlegten sie methodisch die schädlichen Nager. Das Spritzprojekt besprühte Tümpel und Teiche, vernichtete Myriaden hässlichen Geziefers und schaltete es als Krankheitsträger aus. Die gefährlichsten Tiere aber bewegten sich mitten unter ihnen. Wurde ihre Gefährlichkeit nicht erkannt, nur weil sie wie Menschen aussahen? Das allein konnte es nicht sein. Bauer und seine Freunde wussten Antworten. Aber die waren zu glatt, verallgemeinert mochten sie stimmen, im Einzelnen betrachtet, zeigte sich alles komplizierter. Klee war kein Kapitalist, Malleck war keiner. Weder der eine noch der andere verdienten am Krieg. Orden und Beförderungen waren Pfifferlinge im Verhältnis zu den Riesengewinnen der Manager von IG- Farben, Krupp, Thyssen. Dagegen konnten Klee und Malleck im Krieg das Leben verlieren wie jeder Soldat. Trotzdem waren sie Soldaten mit allen Fasern. Wenn sie schon Mord als Alternative des Soldatseins einkalkulierten, weshalb übersahen sie die Möglichkeit des eigenen Todes? Wenn ihnen schon das Leben der anderen nichts wert war, weshalb verhielten sie sich gegen das eigene fahrlässig? War es, weil ihnen jeder Nerv dafür totpropagiert worden war? Vielleicht - aber Hesse hätte es gern genau gewusst. Dieses Wissenwollen bohrte in ihm, wuchs wie eine fixe Idee. Ob es Bauer und seinen Freunden ebenso erging? Nichts deutete darauf hin. Sie kannten die Tsetsefliege als gefährliches Insekt, weil sie deren Schädlichkeit am angerichteten Schaden ablesen konnten. Aber machte nicht erst das genaue Wissen über den einzelnen Schädling den Kampf gegen ihre Masse erfolgreich? Was wusste Bauer von Klee? Dass Klee sein Feind war und dass man ihn bekämpfen musste. Hatte Bauer jemals Anstalten gemacht, sich mit Klee persönlich auseinanderzusetzen?
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