Hesse legte einen Zettel auf den Tisch. Gespannt beugte sich Ede darüber und las laut: "Wenn Herr Feldwebel Klee mag, soll er marschieren - aus dem Lager!"
Ede rieb sich die Hände. "Ich denke so: Damit unsere Propaganda erst mal anläuft, fangen wir an zu pinseln. Die weniger Begabten immer bloß den einen Namen: Wuntram. Karton um Karton, je mehr, desto besser."
"Also Suggestivwirkung durch Wiederholung."
Ede staunte. "Du sprichst, als wärst du ein Agitpropmann gewesen."
"Hab' leider nur mal ein paar Ferienaushilfen bei meinem Onkel gemacht, der hatte ein Reklamebüro."
"Was für brachliegende Kräfte so im Volke schlummern." Ede schlug sich an die Stirn. "Wo waren wir ... Ach so: Die nächste Abteilung wären dann die eingängigen Sächelchen wie die Reime, jeweils etwa ein halbes bis ein Dutzend. Gerhard wird sie pinseln. Der Bengel hat immer Zicken im Kopf - und gute Einfälle."
"Macht Bodo Girstenburg nicht mit?" fragte Hesse verwundert. Ede hob Augenbrauen und Stirnfalten in die Höhe. "Der malt den Clou, eine große Karikatur vom deutschen Soldaten. Stellen wir am Sonnabend neben dem Wahllokal auf."
Die Tür klappte, Gerhard schlenderte herein, eine halb geschälte Apfelsine wie einen Apfel essend. Er hörte sich lieber Jonny rufen und trug eine kunstvoll gelegte Tolle, wie er sie aus amerikanischen Magazinen abgeguckt hatte.
Der kleine Oskar Wentergurst stellte sich todernst vor Jonny hin und machte ein fachlich-abschätzendes Gesicht, als käme der jüngere direkt vom Maskenbildner. "Wunderschön, der Entensterzschopf - beinahe ein Yank."
Jonny war zu beweglich, um den Spott nicht zu merken. "Na und?"
Wentergurst, ehemals Kameraassistent, schob das Mundstück seiner kalten Pfeife zwischen den Zähnen hin und her. Dann umriss er mit ihr in der Luft die Figur Jonnys. "Leider Imitation - zu deutlich Imitation."
"Besser 'ne Imitation als ein Gartenzwerg", fauchte Jonny und spielte auf den Wuchs Wentergursts an.
Weitere Helfer erschienen in der Baracke. Unermüdlich gab Ede Anweisungen, steckte hier einem den Pinsel in die Hand, unterrichtete dort, wie Wasserfarben anzuwenden seien, oder schuf Platz zum Arbeiten. Auch Albert Bader war gekommen, der Direktor der Lagerschule. Er war Ingenieur-Architekt, und manche riefen ihn Ali Baba. Stirnrunzelnd beschaute er sich das chaotische Durcheinander. Die Unexaktheit der Wuntram-Schilder missfiel ihm, und er erbot sich, eine Schablone dafür zu schneiden.
Eben wollte Ede temperamentvoll erwidern, als ihm Buschinski zuvorkam. "Gerade das finde ich großartig, Ali." Buschinski sprach den harten Akzent der in Oberschlesien Aufgewachsenen. Es hörte sich weniger langsam als bedächtig an, wirkte eindringlich auf den anderen, forderte heraus mitzudenken. "Schablone würde den Eindruck einer Einmannarbeit erzeugen. Aber die immer wieder unterschiedliche Zeichnung des gleichen Namens weist auf Massenbeteiligung hin. Eine Wirkung, die kaum bewusst wird und deshalb um so stärker mitspielt."
"Wunderbar!" Dankend hob Ede die Hände zu einer unsichtbaren Gottheit, "Ich hätte Ali angebrüllt, und er hätte es nicht geglaubt. Du hast ihn überzeugt, Schorsch."
Lächelnd tunkte Bader den Pinsel in die Farbe und malte ohne Schablone. Buschinski sprang immer da geräuschlos ein, wo Ede laut nach Hilfe verlangte.
Necke, fast doppelt so alt wie Jonny, genierte sich nicht, sich von dem jungen Stubenmaler beraten zu lassen. Dieck schaffte das Doppelte an Wuntram-Schildern wie Hellmann und rügte den, er solle mehr pinseln und weniger spinnen. Hesse lernte die beiden "statischen Stützen" der Theatergruppe näher kennen, die friesischen Zimmerleute Coord Suthoff und Dirk Larsen. Ede hatte ihnen die schmalsten Pinsel in die Hand gedrückt, die von ihnen gemalten Namenszüge sahen trotzdem aus, wie mit dem Besenstiel geschrieben. Sie brannten darauf, endlich die Plakate anzubringen. Alle sahen den beiden an, dass sie hofften, irgendein Anhänger Klees werde sie dabei belästigen.
Um halb zehn räumten sie die Werkstatt auf. Ede legte die Aufgaben für immer je zwei Mann fest. Geräuschlos verschwanden sie mit Plakaten, Reißnägeln und Heftmaschinen. Ede und Hesse verließen als letzte die Baracke. Vergnügt raunte Ede. "Wir werden's ihnen schon zeigen!"
Der ist glücklich, dachte Hesse.
Herr Feldwebel wird nervös
Hesse hatte pünktlich Feierabend gemacht. Er trat in die stille Baracke und blieb überrascht stehen. Auf jedem Bett lag ein Blatt. Es war der Wahlaufruf Feldwebel Klees. Er war geschickter gehalten als das vom Company-Leader der D-Kompanie eingezogene Plakat. In seinem Aufruf sprach Klee den Leuten um Wuntram einen gewissen Idealismus nicht ab, doch wäre das Fantasterei.
Entsprechend der Genfer Konvention bleibe ein Soldat auch in der Gefangenschaft Soldat. Das wäre Realität, auch im Antinazilager Fort Heaven, und der einzige Kandidat, der auf dem Boden dieser Realität stände, wäre der Kamerad Klee. Die von Wuntram propagierte "Demokratie" führte zu Disziplinlosigkeit und Anarchie, das hätte McLoin zur Genüge bewiesen. Hinter Stacheldraht Politik machen, wäre Utopie oder Schlimmeres, der Vorwand für kommunistische Politik. Doch Kommunisten und ihre Anhänger hätten im Gewahrsamsstaat keine Chancen. Wer in Ordnung und Frieden, ohne gehässigen Politikerstreit die Zeit seiner Gefangenschaft zu verbringen wünschte, der wählte den über Hader und Hass, über allen Parteien stehenden Kameraden Klee zum Lagersprecher.
Hesse knüllte das Blatt zusammen. Wer hatte das ausgeheckt, wer hatte die Blätter verteilt? Appell an die Stumpfen, Unpolitischen. - Bemühe ich mich nicht selbst, unpolitisch zu sein? Aber nicht aus Stumpfheit, sondern aus Enttäuschung. Wer sieht den Unterschied? Hesse fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem Bauer, Buschinski oder Ede ihm diesen Wisch unter die Nase reiben würden. Mit einem alten Trick brachten ihn seine Feinde auf ihre Linie. In Hesse steigerte sich Wut, die zur Entladung drängte. Mit fliegenden Händen sammelte er alle Blätter ein und riss sie mittendurch. Als er die Kameraden kommen hörte, die von den Außenprojekten zurückkehrten, schob er den Packen rasch unter die Matratze. Unvermittelt schlug seine Stimmung um. Was hast du damit schon ausgerichtet, schalt er sich. War es nicht eine ähnliche Dummheit, wie du sie kürzlich verhindert hast? Allerdings ist jenes Plakat plump abgefasst gewesen, dieser Wahlaufruf dagegen ist raffiniert. Wird ihn nicht doch jeder Barackeninsasse zu lesen bekommen?
Mit einigen Brettchen unter dem Arm trat Knospe in die Baracke und wies augenzwinkernd auf den Schatz. Das sollte heißen: der Anfang von deinem Schränkchen. Dann sagte er: "In der A-Kompanie hängen die ersten Wahlplakate für Zecke." Er nahm sein Handtuch und verschwand zum Waschen.
Hesse sprang auf und ging zum Compound I. In Trupps begegneten ihm die Außenarbeiter. Sie kamen vom Motor-Pool und vom Dumping-Place, aus Lagerhallen und vom Rattenfangprojekt, aus Wäschereien, Sortierbaracken und Werkstätten, grau und verstaubt die meisten, einige mit rußigen Gesichtern, unbeschwerter die Jüngeren, ein wenig müde die Älteren. Schon von Weitem sah Hesse mehrere helle Rechtecke an den Barackenwänden der A-Kompanie. Das größte Plakat war schon von der Lagerstraße aus zu lesen. "Wer gegen Hitler ist, muss gegen Klee sein. - Wählt Zecke!"
Manche der PWs lasen es laut, andere schweigend.
"Wuntrams Leute machen es witziger", sagte einer. In Hesse war leiser Stolz. Dieses Lob galt auch ihm. Dann dachte er an die zerrissenen Wahlblätter unter der Matratze, und seine frohe Stimmung erlosch. Schweigsam ging er inmitten der Plaudernden zurück. Erstaunlich, überlegte er, dass sich Klees Traktat auf Zecke überhaupt nicht bezieht. Also sieht das Headquarter die Wahl seines Günstlings lediglich von Wuntram gefährdet. Es sollte den Zeckeleuten zu denken geben. Ärger über sich machte ihn noch finsterer. Was zerbreche ich mir um andere den Kopf, ich muss sehen, wie ich die Blättchen unter der Matratze beiseiteschaffe. Es wäre nicht gut, wenn sie dort entdeckt würden. Dann fand er auch die Angelegenheit nicht so wichtig, gemessen an seinen Sorgen. Ein Brief von Eliza, bohrte es in ihm, würde mich sofort zu einem anderen Menschen machen.
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