Während Herbert mit dem Hund eine Runde an der Leine drehte, telefonierte Helga. Sie hatte sich im Haus umgesehen und am Kühlschrank eine Liste mit wichtigen Telefonnummern entdeckt. Auch die Nummer von Sina, Charlottes bester Freundin, war darauf.
„Hallo Sina, hier ist Helga, Charlottes Nachbarin“, meldete sie sich, als Sina den Hörer abnahm. „Wir suchen Charlotte, und ich hatte gehofft, du weißt vielleicht, wo sie sein könnte“, eröffnete sie das Gespräch.
Helga schilderte die Situation mit Ella und dass Charlotte einfach nicht zu erreichen sei. „Auch Johannes geht nicht ans Telefon“ klagte sie, „aber der ist ja in Österreich zum Skifahren, vielleicht hat er auch keinen Empfang dort.“
Sina wunderte sich. „Unter normalen Umständen hätte ich vermutet, dass sich Charlotte vielleicht spontan eine kleine Auszeit gönnt, Wellness macht oder zum Wandern weggefahren ist. Was jedoch gar nicht zu ihr passt, ist die Tatsache, dass sie ihre Hündin alleine zurückgelassen hat. So etwas würde Charlotte niemals fertig bringen.“
Sina schlug vor, weitere Bekannte von Charlotte zu befragen, und vereinbarte mit Helga, dass sie sich melden würde, sobald sie etwas herausgefunden hatte.
Johannes rief später endlich zurück, aber auch er wusste nichts über den Verbleib seiner Mutter. Sina hatte sämtliche Bekannte abtelefoniert und keiner hatte Kenntnisse über Charlottes Verbleib. „Wir sollten jetzt wirklich darüber nachdenken, die Polizei zu benachrichtigen“, forderte Helga ihren Herbert auf. „So geht das nicht.“
„Vielleicht könnten wir in Krankenhäusern nachfragen“, fiel Herbert ein.
„Ach Quatsch, ich glaube, das macht die Polizei doch dann schon selber“, vermutete seine Frau.
„Was aber, wenn wir hier solche Wellen schlagen, und sie taucht heute Abend spät nochmal auf und kann alles erklären, vielleicht eine Autopanne und Handy verloren oder so irgendwas Normales halt?“, hielt Herbert dagegen.
Aber Helga blieb eisern. Sie nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Polizei. „Guten Tag. Ich möchte eine Vermisstenmeldung machen.“
15. April, ein Tag vor Ostersonntag
Charlotte schritt vorsichtig mit der Kerze in der Hand die Treppe nach oben. Es gab kein Geländer, an dem sie sich festhalten konnte, und der Aufstieg war steil. Vielleicht gab es oben Fenster, die sich öffnen ließen. In ihre Nase zog ein morscher Geruch. Oben angekommen entdeckte sie zwei kleine Schlafzimmer. Enttäuschung breitete sich in ihr aus, als sie feststellte, dass auch hier die Fenster fest verriegelt waren. Niedergeschlagen setzte sie sich auf einen Stuhl, der in der Ecke stand. Die Einrichtung des Zimmers war spärlich. Es gab nur ein Bett, auf das jemand einen altmodischen Überzug geworfen hatte. Daneben standen kleine Nachtschränkchen aus Holz. Als Charlotte deren Schubladen öffnete, entdeckte sie eine Taschenlampe. Die konnte sie auf jeden Fall gebrauchen. Auf einem Regal standen ein paar verstaubte Bücher. Aber ansonsten fand sie hier oben in den beiden fast gleich ausgestatteten Schlafzimmern nichts, was ihr weiterhalf, aus dem Haus zu entkommen. Enttäuscht traten die ersten Tränen in ihre Augen. Verzweiflung und Wut gleichermaßen brachten sie zum Heulen. Sie dachte über ihre Situation nach. Wie konnte sie auch nur so blöd sein, diesem irren Typ mitten in den Wald zu folgen?, ärgerte sie sich und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Vermutlich würde sie tagelang kein Mensch vermissen, fiel ihr dann ein. Am meisten ärgerte sich Charlotte über ihre eigene Dummheit. Sie hätte doch spüren müssen, dass dieser junge Mann etwas im Schilde führte. An der Stelle, als er sie aufforderte, ihr Auto unweit des Waldes stehen zu lassen und den Rest mit ihm im Auto mitzukommen, da die Wege angeblich zu schlecht zu befahren waren, da spätestens hätte sie doch Verdacht schöpfen müssen.
Charlotte überlegte weiter. Johannes war ein paar Tage in den Skiurlaub gefahren. Wenn er mit seiner neuen Flamme zusammen war, vergaß er seine Mutter komplett. Außerdem hatte er schon angekündigt, sich erst nach dem Urlaub wieder zu melden. Sina hatte sie gesagt, sie freue sich auf ein ruhiges Wochenende, ohne Handy, und sie wolle einfach ausspannen. Vermutlich würde Sina sie deshalb nicht anrufen oder gar vorbeikommen. Niemand würde sie vermissen! Sie hatte sich vorgenommen, lange auszuschlafen, weite Spaziergänge mit dem Hund zu unternehmen, abends ein warmes Bad zu nehmen und ein gutes Buch zu lesen.
Jetzt erstarrte sie kurz, als sie an Ella dachte. Sie atmete tief ein und aus. Hoffentlich hatte sie dem Hund genug Wasser in die Schüssel geschüttet. Und hoffentlich hatte sie nicht ins Haus gemacht. Wie lange kommt ein Hund wohl ohne Nahrung aus? Sie hatte Ella vor Jahren auf dem Nachhauseweg von einer Immobilienbesichtigung an einer Autobahnausfahrt gefunden. Sie war an den Leitplanken angebunden gewesen. Damals war Ella ein Welpe gewesen, ein niedliches weißes Wollknäuel mit wunderbaren warmen, braunen Augen. Fast wäre Charlotte an dem Hund vorbeigefahren, Ella hatte sich hinter den Leitplanken zusammengekauert. Das Wimmern des Welpen war fast nicht zu hören gewesen, wenn man die Autoscheiben verschlossen hatte. Charlotte hatte sie dennoch entdeckt. Sie hatte den Wagen gestoppt und Ella befreit. Als sie die Hündin hochhob, leckte diese ihr dankbar durch das ganze Gesicht. An ihrem Halsband hing ein kleiner Zettel. Darauf stand in Druckbuchstaben. „Ella – zum Mitnehmen“.
Charlotte war damals völlig entsetzt gewesen. Wie konnte man nur so einen kleinen Hund aussetzen, hatte sie sich bestürzt gefragt, während sie liebevoll zu dem Welpen schaute. Dann hatte sie Ella ins Auto gepackt und war mit ihr direkt zu einem befreundeten Tierarzt gefahren. Dieser hatte vermutet, dass Ella höchstens drei Monate alt war.
„Sie wird groß, es könnte gut sein, dass das ein Mischling ist, bei dem Vater oder Mutter ein weißer Schäferhund war“, erklärte er. „Vor einiger Zeit hatte ich hier viele Welpen zu impfen, die aus so einem Wurf stammten. Die haben dieser kleinen Dame hier ähnlichgesehen.“
Charlotte war es egal, wie groß die niedliche Ella einmal werden würde und welcher Rassenmix Ella war. Sie hatte diese lebhafte Hündin sofort in ihr Herz geschlossen. Seither war Charlotte stolze Hundebesitzerin. Sie hatte Ella mitgenommen und ihr ein neues Zuhause gegeben.
„Wenn ich wenigstens mein Handy hätte“, fluchte sie leise vor sich hin. Ihre einzige Hoffnung war, dass ihre Nachbarn bemerkten, dass sie ungewöhnlich lange nicht zu Hause war und sie hoffte inbrünstig, dass sie soweit dachten und den Hund wenigstens aus dem Haus holten. Sie sorgte sich fast mehr um den Hund, als um sich selbst.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, stieg sie die steile Treppe nochmal hinunter. Langsam bekam sie Hunger. Ihr Magen knurrte.
Charlotte entschied sich, die Dose mit Ravioli zu wärmen. In der Küche fand sie einen passenden Topf. Mit dem spärlichen Feuer, das sie in dem alten Küchenherd entzündet hatte, gelang es ihr, eine halbwegs warme Mahlzeit zuzubereiten. Sie hatte auch eine Schublade mit Besteck und einige Teller und Tassen in einem Schrank gefunden. Außerdem genehmigte sie sich ein Dosenbier, das sie in wenigen Schlucken leerte. Der Alkohol stieg ihr sofort in den Kopf. Zum Essen trank sie eine weitere Dose, woraufhin sie entsetzlich müde wurde. Erschöpft legte sie sich auf die Couch in der Nähe des Kamines und schlief augenblicklich ein.
16. April – Ostersonntag - morgens auf dem Eifelhof
Rainer hatte kaum ein Auge zugetan. Immer wieder war er schweißnass aufgewacht. Zum Glück waren die Eltern gestern Abend tatsächlich im Wohnzimmer am Fernseher eingeschlafen. Daher war es ihm gelungen, unbemerkt durch den Flur in seine kleine Wohnung zu schleichen. Als er im Bett lag, kreisten die Gedanken einzig und allein um diese Maklerin, die er an der Hütte nach ihrer heftigen Auseinandersetzung so wuchtig gestoßen hatte, dass sie taumelte und sich den Kopf an der Kante des Außengeländers verletzt hatte. Als sie zu Boden fiel und er das Blut an ihrem Kopf sah, war er wie zu Eis erstarrt. Die Erinnerungen holten ihn ein und er sah wieder alles vor sich, als wäre es ein Kinofilm. Sie hatte sich nicht mehr gerührt, lag regungslos am Boden. Er war sich sicher, dass sie keinen Atemzug mehr machen würde. Ab da war er in einer Art Ausnahmezustand und agierte wie ferngesteuert. Er hatte sie getötet. Voller Panik durchwühlte er ihre Handtasche, nahm ihr Handy heraus und versenkte es im Weiher. Die Tasche warf er in den Wald. Dann zog er die reglose Frau ins Haus. Er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Kurzentschlossen verließ er die Hütte, sperrte ab und rannte zum Auto. Ursprünglich hatte Rainer vorgehabt, dieser Maklerin klarzumachen, dass sie sein Erbe auf gar keinen Fall zum Kauf anbieten durfte. Er hatte sich überlegt, sie zuerst darum zu bitten, sollte sie aber uneinsichtig sein, würde er ihr drohen und sie notfalls in dem Wochenendhaus einsperren, und zwar so lange, bis sie zur Vernunft gekommen wäre. Keinesfalls hatte er vorgehabt, sie zu ermorden. Er war völlig verzweifelt darüber, dass die ganze Sache so aus dem Ruder gelaufen war.
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