Nicole Krieg - Die Ecke von gestern

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Die Ecke von gestern: краткое содержание, описание и аннотация

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Paco Rosario wächst im Argentinien der 70er Jahre. Die Familie ist reich aber unglücklich – jeden Tag fliegen Teller. Militärdiktatur, Falklandkrieg, danach Wirtschaftskrise und Insolvenz des Vaters. Paco entflieht dem Chaos mit einem Austauschstudium in Deutschland. Er gründet eine Familie, aber seine eigenen Dämonen und die Abgründe seiner Familie holen ihn ein…

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Nicole Krieg

Die Ecke von gestern

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Inhaltsverzeichnis

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Kapitel

1977. San Roque Stausee, Provinz Córdoba, Argentinien

Pacos Traurigkeit verflog nur langsam. Papa schaffte es immer wieder ihn zu enttäuschen, obwohl Paco langsam wissen müsste, dass er seine Versprechen nicht hielt.

Er warf seine Angel aus und starrte auf den roten Schwimmer. Die Dezembersonne brannte auf seinen Kopf und seine Schultern, das Wasser glitzerte, die großen weißen Wasservögel, Garzas, segelten über den See, schwarze Kolibris schwirrten hektisch um die gelben Irisblüten und saugten sie leer und bis auf das Gezirpe der Grillen war es still, wunderbar still.

Pacos älterer Bruder Helmut saß abseits in seinem Klappstuhl und schlürfte Mate. Ein schlechter Ersatz für Papa, dachte Paco, aber besser als gar nicht angeln.

“Wieso muss ich jetzt mit dem kleinen Hosenscheißer nach Carlos Paz fahren? Ich wollte was mit meinen Kumpels unternehmen, Scheiße!“, hatte Helmut gerufen. Dafür fing er eine Ohrfeige und Paco fühlte sich miserabel, erstens, weil er mit elf kein Hosenscheißer war und zweitens, weil er trotzdem nicht wollte, dass Helmut mit 17 noch vom Vater geschlagen wurde. Doch allmählich fiel all das von ihm ab, das Gezeter zu Hause, die Enttäuschung über den Vater und es gab nur noch See, Sonne, Ferien, Stille. Es ruckte an der Angel, Paco zog die Schnur ein, aber der Fisch war schlau gewesen, er hatte nur den Wurm vom Haken gefressen.

„Che, Helmut, wieso angelst du nicht?“

„Lass mal, Kleiner. Ich trink meinen Mate. Und falls du nichts fängst: Mama hat uns Steaks eingepackt.“ Er klopfte auf die Kühlbox zu seinen Füßen. „Nachher mach ich Feuer.“

Als die Sonne tiefer sank und die Moskitos zu stechen begannen hatte Paco erst zwei kleine Fische gefangen. Das Lagerfeuer knisterte und knackte bereits. Pacos Magen knurrte laut. „Gott sei Dank hat uns Mama asado eingepackt.“ Er klatschte auf eine Mücke auf seinem Arm und zog sich das T-Shirt über. „Können wir nicht endlich grillen?“

„Warte auf die Glut. Da sind noch zu viel Flammen.“

Paco begann, den in Mayonnaise badenden Kartoffelsalat aus der Plastikschüssel zu löffeln. Endlich legte Helmut die silbernen Fischchen und die dunkelroten Rindersteaks auf das Gitter, das auf vier Steinen über der Glut schwebte. Es zischte und duftete in den Abendhimmel. Der See lag ganz ruhig, kein Luftzug bewegte die Oberfläche. Die Vögel schliefen, nur Frösche quakten und Grillen zirpten in der Dämmerung. Eine dünne Mondsichel erschien am Firmament.

Paco und Helmut verschlangen das Fleisch und die Fische als ob es kein Morgen gäbe. Danach lagen sie auf einer Decke im Gras und rülpsten vor sich hin.

„Was für ne Fresserei“, murmelte Helmut.

„Ich bin kugelrund“, ergänzte Paco, woraufhin Helmut auflachte und ihn zärtlich in die Wange kniff.

Paco vergaß immer, dass er fadendünn war, denn momentan fühlte er sich, als hätte er einen Fußball verschluckt.

Helmut setzte sich auf und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche.

„Komm, trink auch mal, Brüderchen. Erzähl nur Mama nichts davon.“

Paco trank und bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen. Warum fanden die Erwachsenen das lecker? Es war einfach nur bitter, schlimmer als Medizin.

Irgendwann war es ganz dunkel bis auf den schwindsüchtigen Mond und die Sterne. Ob der sich minderwertig fühlt, dieser Mond, dachte Paco, so unfertig und unvollkommen zwischen all den perfekten Sternen? Dann fielen ihm die Augen zu. Helmut stupste ihn an und streichelte seinen Kopf.

„Na du – lass uns schlafen gehen.“

Helmut half dem schlaftrunken torkelnden Paco auf die Ladefläche des Nissan-Pickups und leuchtete mit einer tranigen Taschenlampe, damit er seine Decke aus der Tasche kramen konnte. „ROSARIO HOGAR“ stand auf den Seitenflächen des Wagens. So hieß das Heimelektrogeschäft des Vaters und auf der Ladefläche lagen Spanngurte und Planen, die sie jetzt als Unterlage verwendeten. Es raschelte, als sie sich in ihre Decken wickelten. Paco rückte an Helmut heran. Beide schliefen augenblicklich ein, den gnädigen Schlaf der Jugend, die noch nicht das sorgenvolle Umherwälzen der Erwachsenenwelt kennt.

Paco schreckte auf. Er hatte geträumt, dass er einen Ballon verschluckt hatte und ihn ein schwarzer Vogel mit einem langen spitzen Schnabel verfolgte, der ihm in den Bauch piksen wollte, um ihn platzen zu lassen. Der Vogel war hässlich, struppig und glupschäugig und konnte nicht fliegen, sondern rannte auf seinen dürren Stelzbeinen hinter Paco her, der in dem Moment erwachte, als er einen Abhang hinunterstürzte. Paco schüttelte sich, setzte sich auf und rülpste kräftig. Sein Bauch war immer noch überfüllt. Was für ein Scheißvogel! Er legte sich wieder hin. Neben ihm schnarchte Helmut friedlich röchelnd vor sich hin.

Plötzlich hörte Paco ein Geräusch. Ein lautes Rattern wie von einem Hubschrauber und es kam näher. Das war ein Hubschrauber! Aber warum war er nicht zu sehen?

Helmut grunzte, rollte sich auf den Rücken und setzte sich ruckartig auf.

„Was ist das verdammt?“

Das Rattern wurde so laut, dass Paco sich die Ohren zuhielt. Ihre Augen hatten sich an das schwache Licht der Sterne und des dünnen Mondes gewöhnt und sie sahen nun den Hubschrauber als dunkle Form über dem See. Er war unbeleuchtet und er senkte sich, die Rotoren mahlten als böse Schatten vor dem Nachthimmel. Das Wasser wellte sich unter dem Helikopter, der nun in der Luft stand. Paco und Helmut starrten auf den See und sahen, wie menschengroße Pakete eins nach dem anderen aus dem Bauch des Hubschraubers ins Wasser stürzten. Sie zählten zwölf. Der Rotorenlärm übertönte das Aufplatschen, aber dennoch war es ihnen, als hörten sie Schreie, die so grauenvoll zu ihnen drangen, dass sich Paco voller Angst an Helmut klammerte. Der Helikopter drehte ab.

Paco klammerte sich an seinen Bruder, das fürchterliche Rattern wollte nicht aufhören, obwohl die Maschine nicht mehr zu sehen war. Als es endlich still war sprang er auf.

„Helmut! Wir müssen ihnen helfen!“

Schon war er von der Ladefläche ins Gras gesprungen und rannte Richtung Wasser, Helmut war träger und verknackste sich den Knöchel beim Aufkommen. „Ay la puta!“ entfuhr es ihm. Am Ufer holte er Paco ein und zog ihn am Arm zu sich heran. Paco zitterte und schluchzte. Helmut streichelte ihm über den Kopf, dabei konnte er sich selbst kaum auf den Beinen halten.

„Sie sind schon tot, Paco. Wir können nichts tun.“

Paco löste sich aus Helmuts Armen und begann zu würgen. Schwallweise erbrach er sein Abendessen, die Säure brannte in der Kehle, er würgte und schluchzte und als er fertig war musste Helmut ihn stützen um zum Auto zurückzugehen.

„Wir müssen hier weg. Wer weiß, ob die nicht zurückkommen...“ In Helmuts Stimme war Panik.

Er setzte Paco auf den Beifahrersitz, sprang hinter das Steuer und startete den Motor. Rumpelnd rollten sie über das Gras, Helmut ließ die Scheinwerfer aus, Paco klammerte sich an das Armaturenbrett und bei jeder Bodenwelle schleuderte es seinen mageren Körper nach oben. Endlich erreichten sie die Straße und Helmut schaltete das Licht an. An der nächsten Haltebucht hielt er an und schaltete Licht und Motor wieder aus. Er umklammerte das Lenkrad und ließ sein Gesicht darauf sinken. Am Zucken seiner Schultern sah Paco, dass sein Bruder weinte.

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