Boris, dessen braun gebranntes, konturenreiches Gesicht von blonden Locken umspielt wurde, der groß gewachsen und gut durchtrainiert war ( Katharina hat garantiert an den antiken Diskuswerfer bei seinem Anblick gedacht ), hatte sie zu einer Zeit kennengelernt, als sie das erste Mal Kreta bereiste. Sie war damals alleine unterwegs. Zuerst trennte sie sich wieder einmal von Otto und dann flog sie fort, die Welt zu entdecken. Und was fand sie, eine Insel, die sie mit offenen Armen empfing und einen Halbgott von jungem Mann dessen Arme sich um sie schlangen. Als sie heimkehrte und ganz verliebt von dieser Insel und von Boris schwärmte, da ist Otto fast wahnsinnig geworden. Er glaubte, sie für immer verloren zu haben. Sogar einen Arzt hatte er aufgesucht, weil sein Herz ihm Schmerzen bereitete, und dann ist sie doch wieder zu ihm zurückgekommen. Was sie ihm da nicht alles gesagt hatte, er erinnerte sich noch sehr gut daran. Er sei das Beste, was ihr jemals passieren konnte, sei ein hervorragender Liebhaber, bester Freund, Bruder und Lehrmeister in einem. Er komplettiere sie erst, ohne ihn fühle sie sich unvollständig. Aber aus eben diesen Gründen empfände sie das Gefühl der Angst vor dem Verlust dieser Liebe als eine so unerträgliche Qual, dass sie in Momenten der Schwäche, ein Ende mit Schrecken, dieser nie enden wollenden Pein, vorzog. Otto kannte diese zermürbenden Gedanken. Ständig lebte auch er mit der Furcht sie zu verlieren, und ihre Vorstellung von einer Beziehung wirkte sich nicht gerade beruhigend auf ihn aus. Sie schaffte sich Freiräume für die er immer wieder Akzeptanz vortäuschte, dabei quälten ihn häufig die Vorstellungen über das, was sie mit den anderen Männern so tat. Aber darüber, wie ihrer beider Beziehung war, sprach er mit Boris nicht. Dieses Wissen, diese Erinnerungen gehörten nur ihm allein und ganz gewiss nicht hier her.
Boris hatte aufmerksam den Worten Ottos gelauscht und sah nun ein, dass etwas ganz Besonderes zwischen den beiden gewesen sein musste. Er wollte Otto einen Ort in Münster zeigen den Katharina ständig aufgesucht hatte, um dort viele Stunden lang zu verweilen. Vielleicht würde er die Faszination nachempfinden können, die dieser Ort auf sie ausgeübt hatte. Dass er tatsächlich bereit ist, Katharina mit mir zu teilen! dachte Otto ehrfurchtsvoll. Er war überwältigt von der Offenheit und Freigiebigkeit dieses Mannes. Otto sah sich nicht in der Lage dies im gleichen Maße zu erwidern, ein kleiner Rest an Unmut war geblieben, gegenüber dem Rivalen. Dabei stünde dies viel eher dem Unterlegenen zu. Otto musste sich trotzdem etwas von der Seele reden: „Weißt du, was überhaupt das Schlimmste an eurer Geschichte war? Dass du mit ihr zusammen Kreta erleben durftest, dass du bei ihr sein konntest, als sie ihr Kreta kennen gelernt hat. Es zerfrisst mich bis heute, dass ich nicht dabei war, als sie dieses Land erforschte, kennen- und lieben gelernt hat. Ständig rief sie an, um mir mitzuteilen, dass sie wieder einen späteren Rückflug gebucht hat. Ach genau, auch du bist erst später dazu gestoßen, zu Beginn ihrer Reise war sie noch alleine, denn derselbe Anruf mit wieder neuen Flugzeiten-Informationen, erreichte mich nach der Bekanntschaft mit dir. Mich beschlich damals langsam das Gefühl, dass sie nie wieder zurückkommt.“ „Wirklich Otto, von all dem wusste ich nichts. Sie hat mir zwar von dir erzählt, aber für mich klang das damals so, als wäre eure Beziehung beendet gewesen.“ „Das war sie auch, jedenfalls für sie, in diesem Moment.“
Otto hielt es in dieser Wohnung nicht länger aus. Er wollte sich nicht mehr vorstellen, was Katharina dort, mit diesem Mann alles getan hatte. Darum kam er auf Boris’ vorheriges Angebot zurück: „Lass uns rausgehen. Zeig mir diese Welt, die sie so sehr angezogen hat.“
Selbstverständlich holte genau in dem Moment als sie das Haus verließen, die Glocke im Turm gegenüber zu ihrem schauerlichen, stündlichen Paukenschlag aus.
Die Kirche stand höchstens dreißig Meter von dem Haus entfernt. Otto zuckte zusammen. Wie konnte man das nur tagtäglich UND stündlich ertragen? Boris beichtete ihm, dass er sich schon oft gefragt habe, wieviel Schaden eine Gewehrkugel dieser mächtigen Glocke antun würde, aber seine wundervolle und dazu sehr preisgünstige Wohnung schenkte ihm immer wieder Trost. Das konnte Otto verstehen. Mit ihren schrägen Decken, den Giebelfenstern, und dicken, alten Holzbalken, die in den Zimmern, die Stuck verzierten Decken stützten, hatte die Wohnung etwas sehr Extravagantes und Altertümliches.
Boris führte Otto zu einem alten Burgwall, der, obwohl ein sehr trockener Herbst hinter ihnen lag, stellenweise immer noch Wasser führte. Vor Otto tat sich eine längst vergangene märchenhafte Welt auf, die er durch ihre Augen sah. Sie liebte die alten Mythen, Legenden und Märchen, und hier lagen sie in der Landschaft zerstreut herum. Er wurde das Gefühl nicht los, schon einmal dort gewesen zu sein.
Die beiden Männer ließen sich trotz des eisigen Klimas am Rande des Ufers nieder, und überließen einander ihren Gedanken. Boris erinnerte sich an einen antiken Säulengang durch den Katharina ihn mal geführt hatte, auf Kreta, mitten in der Messara-Ebene, im Hochsommer bei völliger Trockenheit. Jedes einzelne Element dieses verwunschenen Säulenganges hatte die Natur entworfen. Er durfte damals sehen was sie sah, konnte sich noch jetzt erinnern, dass Zypressen die Säulenreihen bildeten. Es gab einen Brunnen, den ein paar wilde Sträucher einrahmten, einen kleinen See in einem blühenden Garten. Darin standen, aus Kakteen geformte, bizarre Skulpturen, die dort Hof hielten, und ein paar finstere Gestalten, die den Eingang bewachten. Ohne Katharina hätte er nur ein paar trockene Sträucher und Bäume gesehen, oder nicht einmal das, selbst dann, wenn er mitten hindurch marschiert wäre. Erst ihre Phantasie hatte dieser Landschaft Leben eingehaucht.
Otto konnte sich einfach nicht erklären, woher er den Burgwall von Münster kannte, obwohl er noch nie in dieser Stadt gewesen ist. Er versuchte sich Katharina im Sommer unter den Trauerweiden, in dieser, von Lavendelduft durchtränkten Welt, vorzustellen. Doch als er sie erblickte in diesem pittoresken Landschaftsgemälde, griff sofort wieder das Gefühl der Verzweiflung nach ihm. Wie konnte sie ihn nur alleine hier zurücklassen, einfach fortgehen, ohne ihn, in ihre Welt der Träume? Er fühlte sich im Stich gelassen, unendlich einsam, schwach und verletzlich, als er Boris fragte: „Warst du mit ihr zusammen hier?“, und er wusste gleich, dass da schon wieder der Neid aus ihm sprach. „Nein, sie hat mir nur davon erzählt, und ich habe sie nicht mal verstanden. Mir war nämlich überhaupt nicht klar, wovon sie da sprach. Natürlich kennt der Münsteraner seinen Burgwall, aber kaum einer hat das Glück, ihn durch Katharinas Augen sehen zu können. Sie fühlte sich hier unglaublich inspiriert und ist deshalb immer wieder hergegangen. Ich glaube, wenn ich arbeiten war, hat sie ganze Tage hier rumgesessen und geschrieben. Fotos hat sie, glaube ich, auch gemacht, allerdings habe ich sie nie gesehen. Die sind bestimmt irgendwo unter ihren Sachen. Würdest du mir eventuell Kopien davon schicken, wenn du sie findest? Otto wollte ja, theoretisch, aber praktisch standen ihm seine Gefühle wieder im Weg. Lieber wich er einer Antwort aus: „Mir ist eiskalt, ich glaube, ich bin festgefroren.“ In dem Augenblick erreichte auch Boris ein extrem frostiges Gefühl.So scheuchte die klirrende Kälte beide Männer wieder auf und sie kehrten zurück in die wohlige Wärme der kleinen Küche mit dem instabilen Tisch.
Bei einem heißen Tee erzählte Otto endlich, was geschehen war, ebenso, was man wusste und was nicht. Boris war fassungslos. Für ihn hörte sich das alles wie ein Zeitungsbericht an, den man zwar interessiert liest, der aber mit einem persönlich nichts zu tun hat. Es sind doch immer die Geschichten anderer, die Schlagzeilen machen. Niemand rechnet damit, dass es einen selber treffen könnte.
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