So geschah es, dass sich an jenem zufällig gewählten Ort diese zwei Männer, die einzig die Liebe zu ein und derselben Frau verband, begegneten, um einander Trost zu spenden und ein Stück Wegs gemeinsam zurückzulegen. Da Boris im Moment nichts Besseres zu tun hatte, brachen die beiden alsbald zusammen auf.
Schweigend schritten sie fort auf der Allee. In dieser Stille, die nur vom Rhythmus des knirschenden Kieses unter ihren Füßen begleitet wurde, ging ein jeder seinen Gedanken nach, und die kreisten um Katharina. Otto träumte sie sich herbei, sah, wie sie beseelt zwischen diesen erhabenen Bäumen hindurch schritt: Ein atemberaubend schöner Anblick. Katharina ist ein Mensch gewesen, der stets bemüht war, bewusst durchs Leben zu gehen, und deshalb wird sie damals, als sie den Anderen in seiner Stadt besuchte, mit dieser Landschaft hier verschmolzen sein. In derartigen Situationen erschien sie einem manchmal wie ein Mensch aus einer längst vergangenen Zeit.
Als die beiden Herren nach einiger Zeit die Allee verließen, war von dieser noch immer kein Ende auszumachen. „Wie lang ist diese Allee eigentlich und wo führt sie hin?“, wollte Otto wissen, denn in seiner Vorstellung sah er Katharina weiter dort lustwandeln und es interessierte ihn, wohin es sie in seiner Phantasie trieb. Doch Boris, der das alles noch immer nicht fassen konnte, und krampfhaft versuchte, sich auszumalen, was geschehen sein mochte, hatte nur mit einem halben Ohr hingehört. „Wir sind gleich da.“, murmelte er gedankenverloren. Kaum waren sie in die nächste kleine Straße eingebogen, betraten sie nach ein paar Schritten einen Platz, auf dessen Mitte sich, wie konnte es anders sein, eine Kirche mit einem riesigen Glockenturm breitmachte. Boris wies auf die Giebelfenster eines sehr alten, gut erhaltenen Hauses, von denen nur noch sehr wenige in dieser Stadt standen:
"Wir sind schon da. Siehst du, dort oben wohne ich." Eines der beiden Fenster stand weit offen, was Otto wunderte, schließlich stöhnte und ächzte momentan das ganze Land unter dem hereinbrechenden Winter. Hoffentlich befanden sich keine anderen Menschen in der Wohnung, Ottos Sinn nach Gesellschaft hatte mit der von Boris sein Maximum erreicht.
Nach einem unendlich langen Aufstieg erreichten sie am Ende der Treppe, dort wo kein Weg weiterführt, eine alte holzvertäfelte Tür, hinter der sich, zu Ottos Überraschung, eine äußerst behagliche Wohnung verbarg. Während er anfänglich mit einer Neubauwohnung, nachher zumindest mit einer sterilen Ikea-Einrichtung in vollgestopften Zimmern gerechnet hatte, fand er sich stattdessen in der Dachwohnung eines Hauses aus der Gründerzeit wieder, dessen spartanisches Mobiliar aus ein paar stilvollen alten Möbelstücken und einigen, durchaus interessanten, von eigener Hand hergestellten, bestand. Otto mochte halb leere Räume, wie er sie hier vorfand. Er fühlte sich auf Anhieb wohl.
Boris ließ sich mit ihm in einer kleinen Küche, an einem notdürftig zusammengeschusterten, wackligen Tisch nieder. Drei kleine Schraubzwingen verbanden eine Holzplatte mit zwei Böcken, auf denen sie lag. „Hast du eigentlich mitbekommen, dass nebenan ein Fenster offensteht?“, eröffnete Otto mit einer Belanglosigkeit das Gespräch. Er wollte schnell herausfinden, ob sich noch jemand in der Wohnung verbarg. „Ach ja, stimmt. Das habe ich heute früh total vergessen.“ Boris verließ kurz die Küche, vermutlich um jenes Fenster zu schließen. Zurückgekehrt goss er das Wasser , das gerade begonnen hatte zu kochen, in eine Kanne die auf dem Tisch stand, und sofort duftete es köstlich nach Kräutern. Er zündete sich eine Zigarette an, setzte sich zu Otto an den klapprigen Tisch und stellte gleich klar, dass er nicht gewillt war, noch länger zu warten: „Erzähl schon, was ist passiert? Wie ist sie gestorben?“ „Sie wurde ermordet.“ „Was? Das kann doch nicht sein. Wann?“ Boris saß sichtlich schockiert Otto gegenüber an der lockeren Tischplatte. Otto hatte langsam Sorge, dass das ganze Gestell mit dem heißen, dampfenden Tee darauf, gleich zusammenbrechen könnte. „Aber wer?“ „Keiner weiß es, keiner versteht es, und die Polizei hat schon gar keine Ahnung.“ Boris schien es genauso wenig zu begreifen wie Otto, trotzdem schaffte er es, sich irgendwann zu fangen. „Du musst mir erzählen was da geschehen ist! Ich verstehe das nicht. Wer konnte dieser Frau denn nur etwas antun?“ Otto kannte Boris nicht gut genug, eigentlich kannte er ihn gar nicht, und darum wusste er nicht, was er ihm alles sagen konnte und was nicht. Ihnen beiden wurde schnell klar, dass sie sich erst einmal kennenlernen mussten, bevor sie hier weitermachen konnten.
Boris war Sozialpädagoge und arbeitete in einer Einrichtung für Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Selbst einmal als Jugendlicher ein Sozialfall gewesen, wusste er aus eigener Erfahrung, was diese jungen Menschen brauchten, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Er hatte mit 14 Jahren das Elternhaus und die Schule verlassen, war vor Allem geflohen und hatte sich auf eine wilde Abenteuerreise begeben, die nach seinem Aufgriff durch die Polizei in einem Heim für schwer erziehbare Kinder endete. Dort musste er einiges an Bildung nachholen, was zu einem eher schlechten Abschluss der Realschule führte. Erst zu einer späteren Zeit, als er in die Gesellschaft zurückgefunden hatte, ließ er sich über eine Weiterbildung zum Sozialpädagogen ausbilden. Dankbar hatte ihn danach jene Einrichtung eingestellt, in der er noch immer arbeitete, die hauptsächlich damit beschäftigt war, Migrantenkinder von der Straße zu holen, und Boris machte seine Arbeit gerne, das konnte man spüren.
Jetzt kümmerte er sich um Otto, nahm ihn bei sich auf, schenkte ihm Gehör und spendete ihm Trost. Sie saßen in seiner kleinen, gemütlichen Küche, an einem fragilen Küchentisch, der jeden Augenblick drohte, unter der Last, die hier abgeworfen wurde, zusammenzubrechen. Gemeinsam erinnerten sie sich an eine Frau, die maßgeblich ihrer beider Leben beeinflusst hatte. Zaghaft begannen sie einander Geschichten von ihr zu erzählen, wobei Boris nie zu weit ging. So wuchs von Stunde zu Stunde das Vertrauen aufeinander. Hätten diese beiden Männer sich unter anderen Umständen kennen gelernt, wäre vielleicht eine Freundschaft daraus hervorgegangen. Das war aber nicht weiter verwunderlich, denn Katharina besaß ein sehr feines Gespür für Menschen. Vor allem sah sie in der Freundschaft ein ganz besonders wertvolles Gut, deshalb gab sie immer und erwartete volle hundert Prozent, niemals gab sie sich mit weniger zufrieden. Sie wählte ihre Freunde mit Bedacht und Sorgfalt aus, und schloss dann eine Bindung für das ganze Leben. Die wenigen Freunde, die sie hatte, lebten überall im Land verstreut, nicht alle sah sie regelmäßig, aber für jeden einzelnen wäre sie durchs Feuer gegangen. Und soweit Otto das beurteilen konnte, beruhte das auf Gegenseitigkeit. Deshalb hielt sie das Bündnis der Ehe auch für überflüssig, weil ihre freundschaftlichen Verbindungen nicht mehr steigerungsfähig waren, schon gar nicht durch ein Stück Papier oder eine Unterschrift. Nur Otto zuliebe hatte sie sich darauf eingelassen, weil sie wusste, dass er niemals Ruhe gegeben hätte. Sie hatte nur eine Bedingung gestellt, die Verlobungszeit sollte, wie in früheren Zeiten, mindestens ein Jahr andauern, damit sie beide genug Zeit hätten, sich auf den Rest ihres gemeinsamen Lebens vorzubereiten. Auch wenn Otto der Überzeugung war, dass er sich darauf nicht mehr vorzubereiten brauchte, hatte er sich gerne auf diesen Deal eingelassen, war er doch überglücklich, dass sie nach seinen vielen Anträgen endlich „Ja“ gesagt hatte. Seit nunmehr fast einem Jahr wartete Otto ungeduldig auf den Tag, an dem sie sich endgültig an ihn binden wollte. Es sollte der glücklichste in seinem Leben werden.
„Jetzt verstehe ich, warum sie nun doch heiraten wollte. Mir kam das, ehrlich gesagt, schon irgendwie merkwürdig vor, so untypisch für sie, schien sie doch in dieser Hinsicht kompromisslos zu sein. Ich kann mich noch an einen Satz erinnern, den sie gerne zitiert hat, um ihrer Bindungsunfähigkeit Nachdruck zu verleihen: „ Ich möchte nicht am Ende meines Lebens feststellen, dass ich am Ende des Lebens eines anderen angelangt bin.“ Und irgendwie hatte sie damit auch recht. Dass sie aber all ihre Prinzipien über Bord geworfen hat, um den Rest ihres Lebens mit dir zu verbringen, kann doch nur bedeuten, dass sie dich über alles geliebt hat. Tatsächlich habe ich es nie wirklich verwunden, dass sie sich damals für dich entschieden hat. Aber jetzt, nachdem ich dir begegnet bin, verstehe ich es langsam, und heute bin ich fast froh darüber, dass mir die Zeit ohne sie, schon ein wenig Abstand verschafft hat, denn was du jetzt durchleben musst, möchte ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen.“ Otto taten Boris’ Worte gut, auch wenn der Schmerz auf seiner Brust in diesem Moment wieder zunahm.
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