Das Letzte bekam er mit und blickte unwillkürlich auf den Verlobungsring an seiner linken Hand. Ein funkelnder Stern schien, wie durch Magie, über den schwarzen Stein hinwegzugleiten, er hatte etwas Sonnenlicht eingefangen und gab es auf diese Weise wieder frei. Katharina hatte ebenfalls einen an der linken Hand getragen, und in nicht einmal zwölf Wochen sollten beide Ringe auf die rechte Hand hinüberwechseln und ein ewiges Bündnis besiegeln. Wollte sie sich jetzt doch davor drücken? Wieder zeigte der Kommissar seine gute Beobachtungsgabe, fragte Otto nach der Bedeutung des Ringes und, ob Katharina auch einen getragen hatte. Offenbar war ihrer verschwunden, mit dem Finger, der ihn trug. „Das sind unsere Verlobungsringe, und sie wäre mit Sicherheit nicht ohne ihren aus dem Haus gegangen.“ Otto stand kurz davor, ihnen den Hintersinn dieses Steines zu erklären, als ihm klar wurde, dass das hierfür wahrscheinlich überhaupt nicht hilfreich wäre. „Ach so, wir werden danach Ausschau halten. Vielen Dank. Das wäre vorerst alles, außer einer Sache: Könnten sie, wenn es nicht zu viel verlangt ist, so schnell wie möglich ins Rechtsmedizinische Institut in der Turmstraße kommen, um ihre Leiche zu identifizieren! Anschließend hätten wir da noch ein paar Dinge zu klären.“ Irgendwo in der Ferne hörte Otto die Glocken einer Kirche läuten. „Das bedeutet, es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie es gar nicht ist?“ „Diese Hoffnung sollten sie sich lieber aus dem Kopf schlagen. Es ist nur zwingend erforderlich, dass sie jemand so rasch wie möglich identifiziert. Erst danach dürfen wir die genauen Umstände ihres Todes untersuchen, und wenn sie das tun würden, könnten wir ihrer Familie diesen schmerzvollen Gang ersparen.“
Otto versprach zu kommen, und jenes sonderbar, ungleiche Paar wandte sich teilnahmslos dem Ausgang zu. Sie hatten bekommen, was sie wollten und ließen Otto, dessen Welt sie mit wenigen Worten in Trümmer gelegt hatten, in diesem Trümmerhaufen zurück. Unerklärlicherweise hatte das Zittern seines Körpers aufgehört, der war jetzt ganz ruhig. Aus den Tiefen seines Seins bohrte sich ganz langsam eine schreckliche Emotion an die Oberfläche, kein Schmerz, ein Gefühl der Leere und des Nacktseins. Gläsern schien er zu werden, seine Haut durchsichtig, für jedermann einsehbar, wie auf den Bildern dieser Körperscanner, die man inzwischen auf so manchem Flughafen vorfindet. So verletzlich, wie er sich jetzt fühlte, blieb er rührungslos, zusammengekauert dort sitzen, wo er war und träumte sich auf eine saftige, grüne Wiese. Es roch so herrlich nach frisch gemähtem Gras.
„Otto, ist alles in Ordnung? Was ist denn passiert?“ Die Regisseurin hockte vor ihm. Wo war die plötzlich hergekommen? „Ach nichts. Machen wir jetzt weiter? Soll ich alle ein-rufen?“ „Nur, wenn du dich dazu in der Lage siehst.“ „Na klar, warum auch nicht?“
Als er wieder zur Bühne kam und die Probe fortsetzte, fragte ihn niemand, was los gewesen sei. Das fand Otto sehr merkwürdig, denn schließlich hatten sie alle mitbekommen, dass nur seinetwegen die Probe zu so früher Stunde unterbrochen worden war, und normalerweise hätten sie wissen wollen, warum. Irgendjemand musste geplaudert haben. „Der Pförtner!“, schoss es ihm durch den Kopf, der hatte als einziger alles mit angehört. Am liebsten wäre er sofort zu ihm gegangen und hätte ihn zur Rede gestellt. Er schwor sich, das nach der Probe auf jeden Fall nachzuholen, aber bis dahin sollte sich sein Verdacht als Irrtum herausstellen.
Kurz nachdem Otto wieder alle Leute auf, vor und hinter der Bühne auf ihren korrekten Positionen wusste, und eben im Begriff war, die Probe fortzusetzen, da erschien ganz unverhofft der Intendant des Hauses am Inspizienten Pult, und bot ihm an, sich frei zu nehmen. "Nein, wieso denn?" "Ich weiß, warum die Polizei da war. Bevor ich dich aus der Probe holen ließ, haben sie mir erklärt, worum es geht. Ich kann mir also vorstellen, wie es dir geht, und hätte Verständnis, wenn du jetzt nicht weiterarbeiten kannst. Das regle ich schon irgendwie." "Nicht nötig, ich mache weiter." Otto setzte sogleich alle erforderlichen Lichtzeichen und rief zur Bühne, es könne jetzt weitergehen, damit der Intendant sehen konnte, dass es ihm ernst war. Nun war Otto klar, was vor sich gegangen war. Der Intendant hatte es von der Polizei erfahren, die Regisseurin vom Intendanten und das Ensemble von der Regisseurin. Otto fragte sich, ob auch schon die Kollegen von der Klimatechnik Bescheid wussten, die ihr Domizil ganz tief unten im Keller hatten. Es empörte ihn, dass der Klatsch, den das Theater über alles liebte, nun ihn zum Thema hatte, während sein bisheriges Leben, da unten an der Pförtnerloge, ein jähes Ende fand. Er hatte keine Zeit mehr länger darüber oder über andere Dinge nachzugrübeln, die Probe verlangte nach seiner ganzen Aufmerksamkeit.
Otto blieb also. Wie ein gut programmierter Roboter versah er seinen Dienst bis zum bitteren Ende. Nach der Vormittagsprobe wurde geleuchtet, bis an die Abendprobe heran. Ohne eine Pause dazwischen, rief er danach gleich wieder alle zum Stückbeginn ein. Nach einem halbwegs gelungenen Durchlauf, bat er über seinen Ein-Ruf alle Darsteller zur Kritik ins Konversationszimmer, schloss sein Inspizienten Pult ab und entschied sich, dieses Mal an der Probeneinschätzung nicht teizunehmen. Wenn es Kritik an seiner Arbeit gab, konnte ihm die Regisseurin oder ihr Assistent diese am nächsten Morgen mitteilen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Endlich neigte sich dieser qualvolle Tag seinem Ende zu und Otto betrat, auf einen Whisky erpicht, die Theaterkantine. Hatte dort soeben noch ein reges Treiben geherrscht, stellte sich abrupt betretenes Schweigen ein. Irritiert schaute er sich um und sah die vielen fragende Augen auf sich ruhen. Bevor irgendjemand ihn ansprechen konnte, verließ er den Raum auf der anderen Seite wieder und trat hinaus auf die Straße.
Er ging in die nächstgelegene Kneipe, in der ihn mit Sicherheit niemand kannte und bekam endlich seinen lang ersehnten Whisky. Dies war der Beginn einer Nacht der endlosen Exzesse. Er zog von Kneipe zu Kneipe und schüttete in sich hinein, was hineinging. Ob er dabei irgendwen getroffen hat, dass wusste er später nicht mehr. Als der Morgen graute standen immer noch ein Bier und ein Whisky vor seiner Nase auf dem Tresen eines Lokals, dass er noch nie zuvor gesehen hatte, und von dem er nicht einmal wusste, wo es sich überhaupt befand. Statt irgendwo in Berlin hätte er sich ebenso gut auf dem Saturn befinden können. Nachdem die meisten Menschen ihren Weg zur Arbeit zurückgelegt hatten, und der Kneipier seinen Laden schließen wollte, war es auch für Otto Zeit aufzubrechen. Ein neuer, langer Probentag lag vor ihm. Als er sich vom Barhocker hievte, wurde ihm klar, dass er viel zu betrunken war, um arbeiten zu gehen. In dem Zustand hätte er kaum den Weg zum Theater gefunden. Er riss sich zusammen, versuchte sich zu konzentrieren und rief dort an. Im Betriebsbüro fragte man nicht einmal nach dem Grund, als er ihnen mitteilte, dass er sich außerstande sähe, jetzt zur Probe zu kommen. Da am Morgen nur kleine Einzelproben angesetzt waren, sollte seine Abwesenheit kein größeres Problem darstellen und bis zur Abendprobe wollte er wieder fit sein.
Seine neu gewonnene Freiheit nutzte Otto dafür, in die nächste offene Kneipe einzukehren, wo er sich wieder Bier und Whisky bereitstellen ließ. Während er ein um das andere Glas trank, wartete er darauf, dass er endlich etwas Anderes spürte, als diesen dauernden Druck, der auf ihm lastete, doch lange Zeit veränderte sich nichts. Eine nie gekannte Ruhe hatte sich seiner bemächtigt, als wäre er zu einer leeren Hülle verkommen, einzig dazu da, dieses Vakuum zu umschließen. Schweigend saß er da, an seinem Tisch und trank sein Bier und seinen Whisky, ohne einen Gedanken. Das Einzige, das ihm ab und zu passierte, waren Bilder, die ihm erschienen, vor seinem geistigen Auge. Da war dieser dürre, schnauzbärtige Polizist, dessen Gesicht jedoch Katharinas Züge trug. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er das wahrscheinlich sehr komisch gefunden, aber jetzt stieß ihn das einfach nur ab. Die Stunden gingen ins Land, dann endlich wich der Druck von ihm, er landete sanft auf einer Wolke und begann sich aufzulösen, wurde körperlos. Mit dem frisch aufgekommenen Wind zerstreute er sich und glitt hinüber in ein unbekanntes, düsteres Land.
Читать дальше