1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 „Hallo Ryan, bist du schon am Flughafen?“
„Bin gerade unterwegs.“
„Gut, ich hab nicht viel Zeit, hör zu: Leon ist schon da. Ihr werdet am Gate euren Kontaktmann für Amsterdam kennen lernen. Er heißt Ottmar Verhoeven und ist der Leiter der zuständigen Abteilung des AIVD vor Ort. Von ihm bekommt ihr alles Weitere. Falls ihr noch was braucht, ruft mich unter der Nummer an, die ihr gleich auf’s Handy bekommt!“
„Verstanden.“
Mit einem „Guten Flug“ verabschiedete sich Grinder aus der Leitung.
Ryan blickte aus dem Fenster und ließ sich von der vorbeifliegenden grauen Leitplanke der Autobahn hypnotisieren. Die Informationen hatten bei ihm bisher mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet und er bekam das Bild des kleinen toten Mädchens im ‚Lamacun‘ nicht mehr aus dem Kopf. Die Farbe ihrer Augen, ein kräftiges hellblau, das zur Iris hin grünlicher wurde, erinnerte ihn an ein Mädchen, das er einmal in Afghanistan getroffen hatte. Beide waren nicht mehr am Leben und bei beiden hatte er nichts gegen ihren Tod unternehmen können.
So saß er da, fixierte die graue Leitplanke, die sich mal hob, mal senkte und versuchte sich einen Reim auf den Vorfall in London zu machen, bis sich von vorne der Chauffeur zu Wort meldete.
„Fünf Minuten, dann sind wir da.“
„Danke!“, sagte Ryan. Er musste unbedingt mit Leon sprechen.
Ryan hatte nicht erwartet, dass sie an einem separaten Gate einchecken würden. Der Eingang zu diesem exklusiven Vergnügen befand sich etwas abseits von den Zugängen für das ‚Fußvolk‘. Er stieg aus der Limousine, die ihn hergebracht hatte, durchlief den auch hier notwendigen Sicherheitscheck und wurde einen kleinen Gang entlanggeführt. Im Grunde sah es dort genauso aus, wie an den großen Terminals ein paar hundert Meter weiter, nur war alles sehr viel kleiner und anstelle von Duty Free Shops gab es eine Lounge mit Tischen, auf denen Kaffee, Wasser und eine Auswahl an Snacks bereit stand. Leon war bereits angekommen und unterhielt sich gerade mit einem großen, schlaksigen Mann. Er trug eine braun-schwarze Hornbrille und einen marineblauen Anzug mit weißem Hemd. Ryan schätze sein Körpergewicht auf gut 90 Kilo. Reichweite mit seinen Händen circa 1,50 Meter, Größe circa 1,95 Meter. Der Haarschnitt war von einem Friseur, der wusste was er tat, de facto gehobene Mittelklasse. Er trug einen Ehering, war also verheiratet, hatte wahrscheinlich eins oder mehrere Kinder im Vorschulalter, warum sonst waren da verwaschene Spuren von bunten Malstiften auf seiner linken Hand? Ryan nickte zuerst Leon zu und schüttelte dann die Hand des Holländers.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte Verhoeven mit sympathisch-niederländischem Akzent.
„Sie sind Herr Cramer, richtig?“
Ryan lächelte ihn an: „Ryan bitte, sonst komme ich mir zu alt vor!“
„Sehr gerne Ryan. Holt euch doch einen Kaffee. Ich gebe euch dann ein kurzes Briefing. Unser Flieger geht erst in 25 Minuten.“
Während die beiden sich daran machten, das dampfende Schwarz in ihre zwei To-go-Kaffeebecher zu füllen, war Ryan in Gedanken schon wieder bei der Akte, die er im Auto überflogen hatte.
„Sag mal, die Scotlandyard files, hast du mir da alle geschickt?“
„Ich weiß worauf du hinaus willst“, sagte Leon und schenkte sich aus einer silbernen Karaffe Milch in seinen Kaffee.
„Ja und Ja. Ich hab dir alles geschickt und entweder die wollen uns verarschen oder da fehlt was.“
„Hast du eine Ahnung, wie sie ihn umgebracht haben?“, fragte Ryan.
„Nein, ich weiß nicht mehr als du“, sagte Leon besorgt.
„Hat Grinder was erzählt?“
„Hm, weiß nicht mehr genau.“ Leon seufzte.
„Vielleicht kann er uns mehr darüber sagen.“ Er nickte in Verhoevens Richtung. Der war mittlerweile vom anderen Ende der Halle zurückgekommen und hatte eine kleine, braune Ledertasche dabei. Er händigte beiden eine neue Akte aus und Ryan begann sofort, darin herumzublättern.
„Das sind die Aufzeichnungen des MI5 zu dem Fall. Sie haben auch noch ein paar Daten zum Aufenthalt der Zielperson vor dem London-Vorfall. Demnach hielt er sich zeitweise in...“
„Koblenz!“, rief Ryan aus und blickte Leon halb erstaunt, halb entsetzt an.
„Ja… in Koblenz auf“, sagte Verhoeven etwas verlegen.
„Er war hier? Wann?“, fragte Leon
„Nun, das steht alles da drin…“
„Bevor wir die uns durchlesen, nur eine Frage. Wie ist Matthew getötet worden?“, warf Ryan schnell ein.
„Laut MI5?“
„Ja, laut MI5.“
„Nun ja, wenn ich mich recht erinnere, Schuss aus nächster Nähe von einem Polizeibeamten.“
„Bist du dir da sicher? Nicht viele Beamte in London tragen eine Schusswaffe bei sich.“
„Ich glaube so steht es im Bericht, lies aber lieber nochmal nach, ich bin manchmal etwas vergesslich.“ Verhoeven begann zu lächeln.
„Ich werde mich mal kurz um unseren Shuttle kümmern!“
Das Flugzeug war eine Enttäuschung. Nachdem sie bei strömendem Regen so schnell wie möglich in den Shuttlebus eingestiegen waren, mussten Leon und Ryan feststellen, dass sie nicht zu einem Privatjet, sondern zurück zu den ‚normalen‘ Terminals gebracht wurden. Dort zwängten sie sich dann in die Economy-Sitze eines A320 und verabschiedeten sich von der Vorstellung, sie seien eine Art James Bond. An Bord arbeiteten sie weiter an dem Papierstapel, den sie von Verhoeven bekommen hatten.
Ryan war es bis heute ein Rätsel, warum Teile von diesen Berichten meist geschwärzt wurden, die Seiten waren durchzogen von dicken, fetten, schwarzen Balken. Anders als viele glaubten, verdeckten diese Vorhänge nur selten hitzige Verschwörungstheorien und Mysterien, oft waren es einfach Fehler: Falsch verpackte Beweismittel, unzuverlässige Zeugenaussagen, Verfahrensmängel, also im Grunde Zeilen, auf die man sich bei genauerer Prüfung nicht berufen konnte. Da diese Berichte meist kurz nach dem Vorfall geschrieben wurden, kam es häufiger vor, dass man hinterher Teile ausstreichen musste. Ryan verstand nicht, warum man das dann auf diese Weise tat, anstatt einfach einen neuen, korrigierten Bericht anzufertigen. Wahrscheinlich mochten die Geheimdienste ganz einfach diesen dunklen Look, diesen Geruch nach Verschwörung und Intrigen.
Größtenteils deckten sich die Informationen des MI5 mit denen, die er schon von Grinder bekommen hatte. Die Auslandsaufenthalte waren zeitlich identisch, aber warum wussten sie nichts davon, dass er in Koblenz gewesen war? Ein Überwachungsvideo hatte ihn erwischt, dabei müsste ein Mann seines Formats wissen, dass an Wasserschleusen in der Regel immer Kameras angebracht waren. Er war vom Metternicher Stadtteil aus über die Schleusen-Brücke auf die Koblenzer Stadtseite hinübergelaufen. Danach verlor sich seine Spur wieder.
Was hatte er dort gemacht? In Metternich gab es kaum mehr als ihr Büro und ein Militärgelände, doch sich diesem ungesehen auch nur zu nähern, war geradezu unmöglich. Er wusste das. Teile seiner Ausbildung hatten auf dieser Basis stattgefunden. Sie war flächenmäßig zwar klein, lag dafür aber direkt an der Mosel, bot genug Platz für das Nachstellen von Kampfszenarien und besaß einen veralgten Tümpel für Übungen über und unter Wasser. Damals hatte Ryan diese Pfütze wahrlich hassen gelernt.
Der Besuch der Hightech Messen passte wieder ins Profil, immerhin hatte er eine Zeit lang bei SAP gearbeitet. Was ihm aber immer noch ein dickes, fettes Fragezeichen auf die Stirn zauberte, war dieser eine Satz: „[…] der Verdächtige wurde aus nächster Nähe mit der P320 eines Beamten in den Kopf getroffen. Der Tod wurde noch am Unfallort festgestellt.“
Tot war er, das konnte man mit fug und recht behaupten, aber erschossen aus nächster Nähe? Ryan klappte den Bericht zu und sah sich noch einmal die Fotos an. Immer noch kein Bild von Matthew…
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