„Du musst mir wirklich nichts erzählen, nur falls du willst. No pressure!“, hatte er dann schnell nachgeschoben. Sein Kopf war damals so feuerrot angelaufen, dass Ryan befürchtete, er würde gleich die zerplatzten Überreste von Martin vom Boden auflesen müssen. Vielleicht lag es daran, dass er die Überwindung erkannte, die Martin das Fragen gekostet hatte, oder vielleicht daran, dass er bei ihm nicht das Gefühl bekam, bemitleidet zu werden und keine dieser beileidsgeschwängerten Blicke empfing. Oder vielleicht lag es daran, dass er einfach Martin war, der Mann mit dem lauten Mädchenlachen und den zu großen T-Shirts.
So oder so, Ryan hatte ihm damals mehr erzählt, als so manchem Psychologen aus seiner Vergangenheit und die ganze Zeit über sah Martin ihn mit großen Augen an, wie ein Enkel seinen Großvater, wenn der ihm ‚Opa-Geschichten‘ erzählt. Von den Flashbacks, den ständigen Bildern im Kopf, die ohne Vorwarnung auftauchte, nur um dann wieder zu verschwinden. Er erzählte ihm, wie er unter diesen Bildern gelitten hatte, dass sie von überall herkamen, Irak, Afghanistan, vor allem Syrien. Sogar von dem Waisenhaus in dem er aufwuchs, nachdem er seiner Mutter entrissen worden war, weil die ihn hatte halb verhungern lassen. Dass ihm auch schöne Erinnerungen an seine Zeit geblieben waren, an den Garten vor dem Waisenhaus, an seine Kameraden beim Militär und an die vielen exotischen Länder dieser Welt, die er bereist hatte.
Doch mit dem Guten stets verbunden war das Grauen. Zum Beispiel als er Luca verloren hatte. Wenigstens musste er ihn damals nicht in den Armen halten und zusehen, wie er röchelnd und spuckend verblutete. Bei Luca ging alles ganz schnell. Sie waren bei einem Nahrungsmitteltransport ins Kreuzfeuer geraten. Luca stieg als Erstes aus dem Militärfahrzeug aus, das man als ‚Humvee‘ bezeichnete und wurde von panzerbrechender Munition erwischt. Die meisten wussten nicht, was panzerbrechende Munition macht, wenn sie nicht auf eiskalten Stahl, sondern auf warmes Fleisch trifft. Sie durchschlägt nicht, sie durchbohrt nicht. Sie pulverisiert.
Lucas gesamter linker Torso regnete damals auf Ryan nieder, wie Sprühnebel an einem schwülen Tag im April.
Er erklärte Martin, dass er mittlerweile eine gewisse Distanz zu diesen Eindrücken aufbauen konnte und dass es ihm damit ein bisschen ging wie einem Künstler mit dem Lampenfieber. Es würde nie weggehen und war da, jedes Mal, wenn er die Bühne betrat, aber man gewöhnte sich an das Gefühl, an die Reaktion, die der Körper zeigte. Irgendwann war es eben nur noch Lampenfieber, irgendwann war das Gefühl langweilig. Hunderte und aberhunderte Male empfunden, hatte es nicht mehr viel Einfluss auf den Menschen. Damals zerstörten die Bilder sein Leben und nagten an ihm wie ein aggressiver Krebs, der seinen Wirt von innen heraus zerfrisst. Heute konnten sie ihm nichts mehr anhaben.
Nur die eine Sache ließ er aus, das, was nur Mia über ihn wusste, den Ursprung seines Leids und den Namen, den sie ihm gegeben hatten, als er damals den Seinen mehr und mehr verlor. Er wollte und konnte nicht darüber reden, auch mit Martin nicht. Nicht über die schwarze Gestalt, die ab und an des Nachts durch seine Träume huschte, übermächtig, unbesiegbar und Menschen in den Tod reissend. Generell hatte er es in sich eingekerkert, den Schlüssel weggeworfen und seit langer Zeit nicht mehr zurückgesehen, denn auf diese Weise funktionierte es am besten.
Stattdessen erzählte er ihm, dass er so Mia kennen gelernt hatte. Sie forschte als Biologin im Auftrag des Militärs an einem Mittel gegen die Posttraumatische Belastungsstörung. Sie war Teil eines Teams, das aus Biologen, Chemikern, Ärzten und Computerspezialisten bestand. Ironischerweise hatte er ihr Mittel nie eingenommen. Das, was ihn geheilt hat, war sie.
Martin hatte sich das alles angehört, nichts gesagt, eben nur zugehört. Als Ryan fertig war, schwiegen sie beide eine Weile, bis Martin die Worte sagte, die er nie vergessen würde. Etwas unbeholfen und doch von Herzen überzeugt: „Ich bin froh, dass wir Freunde sind!“
„Also, was kann ich Gutes für dich tun?“, fragte Ryan, während sie am Stadtstrand vorbei flussaufwärts schlenderten.
„Ich game ja ziemlich oft.“
„Sag bloß“, schnaubte Ryan.
„Ja, ich game sehr oft. In letzter Zeit sehr viel PUBG. Du weißt schon dieses…“
„Ballerspiel!“
„Ego-Shooter, aber ja… Ballerspiel.“ Bei dem Wort runzelte Martin die Stirn, fuhr dann aber fort.
„Auf jeden Fall wird den Gamern oft vorgeworfen, dass sie ihr eigenes Gewaltpotenzial durch diese Beschäftigung steigern und die Sensibilisierung verlieren, was einfach Bullshit ist!“ Martin gestikulierte wild um sich.
„Ich will zeigen, dass wir uns auch kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Ich habe diesen Podcast, den ich einmal im Monat mache. Normalerweise unterhalte ich mich mit anderen Gamern über neue Spiele und allen möglichen Shit, aber ich würde gerne mal was Ernstes machen. Die Realität zeigen, die mit dem Spiel nichts zu tun hat und klarmachen, dass das auch gut so ist. Also das ganze wäre nicht Live, ich schneide den Podcast danach. Ich kann dann auch wirklich Chunks rausnehmen, egal was, du müsstest es nur sagen. Und ich würde auch nicht so in die Tiefe gehen, es geht nur insgesamt um ein bisschen… ja, also das Militär und eben auch, du weißt schon, dass das scheiße ist. Und deswegen wollte ich dich fragen, ob…“
„Ich vertrau dir, Martin“, unterbrach ihn Ryan, weil er wie damals befürchtete, Martins Kopf würde vor lauter Blut gleich platzen, „Ich bin gerne bei deinem Podcast dabei.“
Martin war die Erleichterung anzusehen. Er musste sich lange überlegt haben, wie er Ryan die Idee präsentieren konnte.
„Nice!!! Das wird Hammer!“, sagte Martin, etwas zu euphorisch.
„Im Gegenzug gehst du mit mir dann mal ins Gym!“, lachte Ryan.
„Ich glaube nicht, dass du das erleben willst!“, erwiderte Martin und strich sich dabei mit dem Zeigefinger dreimal bestimmt über die Kehle.
Sie gingen noch ein Stück weiter, Martin erzählte etwas von einem neuen Freund, den er in einem Online Chat kennen gelernt hatte und der ihn über die Maßen faszinierte, weil er so breit gefächertes Wissen besaß. Dann fragte er nach Mia. Ryan erzählte ihm alles Neue und auch, dass er sich nicht sicher war, wie sie gleich reagieren würde. Mit einem: „Du machst das schon!“, verabschiedete sich Martin am Parkplatz von ihm.
Ryan ließ noch einmal seinen Blick schweifen, ehe er ins Auto stieg. Erst als er den Motor zündete, konnte er das Treiben am Stadtstrand nicht mehr hören.
Während er die Einfahrt zum Hinterhof ihrer Wohnung nahm, durchschritt die Sonne gerade ihren höchsten Punkt am Himmel. Ryan hatte auf dem Weg Blumen und eine kleine, unbedruckte Karte besorgt. Mit zwei Finelinern begann er darauf zu malen, obwohl er Gott weiß kein Künstler war. Sein Herz pochte, als er die zwei Stockwerke bis zur Wohnungstür hochmarschierte und das Holz der alten Wendeltreppe unter seinen Füßen knarzte. Sonst beruhigte ihn das Tönen der Stufen immer, denn es war der Beweis, dass man sich nicht so einfach an ihn heranschleichen konnte. An diesem Tag aber war er zu versiert auf das Gespräch, das vor ihm lag, um sich an den Vorzügen des Treppenhauses zu erfreuen. Vor dem Klingelschild mit der Aufschrift ‚Cramer-Dens‘ kam er zum Stehen, entriegelte das Schloss und betrat die Wohnung.
Sie trug ihr graues T-Shirt und darunter keinen BH. Nachdem sie ihn mit einem Kuss in Empfang genommen hatte, musterte sie ihn von oben bis unten. Sie seufzte und fragte: „Also, was ist los?“ Ryan war irritiert und gab den Unschuldigen.
„Was meinst du?“
„Du warst nicht so lange weg und versteckst jetzt Blumen hinter deinem Rücken. Also, wie heißt die Bitch?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern. Es hatte sie weniger als eine Sekunde gekostet, um ihn zu durchschauen.
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