Grinder blätterte in einer Akte, die er soeben aufgeschlagen hatte: „Sonst nichts Auffälliges, natürlich der übliche Krimskrams, Internetverlauf, Strafregister, aber alles in allem sauber.“
Er rieb sich die Augen. „Und dabei haben Sie natürlich recht, wir müssen unbedingt herausfinden, was diese Lichtquelle war, was sie mit dem Amoklauf zu tun hat und wie der Mann mit Glatze damit in Verbindung steht. Die Überwachungskameras zeigen, dass er eine Art Bildschirm bei sich hatte. Herr Martin Knabe versucht gerade herauszufinden, was das für ein Ding war. Er ist ja sowas wie unser Inhouse-It-Spezialist. Auf jeden Fall ist der Mann direkt nach dem Vorfall untergetaucht. Eine Rasterfahndung hat zunächst nichts ergeben… Zumindest vor zwei Tagen.“ Leon und Ryan wurden hellhörig.
„Vor zwei Tagen?“, hakte Leon nach.
„Ja, vor zwei Tagen. Unsere Zielperson hält sich in Amsterdam auf.“
„Woher kommt die Information?“, fragte Ryan
„Er hat eingecheckt. Im Mövenpick-Hotel. Als man ihn festnehmen wollte, war sein Hotelzimmer leer…“ Grinder hielt inne. Ryan kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm etwas unangenehm war. Zum einen hatte er nicht direkt auf seine Frage geantwortet, woher die Information kam, zum anderen schien ihn offensichtlich etwas umzutreiben. Es wirkte so, als hätte er den wahren Grund für ihr Treffen noch nicht offenbart.
„Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Wenn es nach dem BND ginge, dann würde man diese Angelegenheit London und im jetzigen Moment den Holländern überlassen. Ich halte das für einen Fehler. Die ganze Situation ist… besorgniserregend. Aber ich werde bei denen sicher nicht betteln!“ Er ruckte kurz den Kopf nach oben.
„Ich habe Kontakt mit der zuständigen Behörde in Holland aufgenommen. Sie werden uns einbeziehen. Allerdings nur direkt vor Ort. Wir müssten also jemanden hinschicken. Da… bleiben nicht so viele Optionen…“ Nun begann Ryan zu begreifen, worauf Grinder hinaus wollte und auch, warum er damit so lange zurückgehalten hatte. Er war normalerweise ein Mann der direkten Worte, doch dieses Thema schien selbst ihm Respekt abzuverlangen. Weil es um Ryan ging.
„Sie beide werden nach Amsterdam fliegen. Ihre Aufgabe wird es sein, die Lage vor Ort zu beurteilen und dem niederländischen Geheimdienst AIVD auf die Finger zu schauen. Ihr Flieger geht heute Abend. Alles weitere erfahren Sie dann vor Ort.“
„Danke, dass du mich da mit reingezogen hast!“, keifte Leon schnippisch. Sie hatten Grinders Büro wieder verlassen und saßen mittlerweile in ihrem eigenen, das war wesentlich weniger schön anzusehen und vor allem beträchtlich kleiner. Sie teilten sich einen Raum ohne Tageslicht, der gerade einmal genug Platz für zwei Schreibtische, ein White Board und eine bescheidene Stoffcouch bot.
Ryan war irritiert: „Warum ich?“
„Na ja, früher wär’ ihm nie eingefallen, dass er einen von uns nach draußen schickt. Aber seitdem wir dich als Ex-Rambo dabei haben, is’ er da wohl etwas lockerer.“
Ryan lachte: „Du hast doch immer gejammert, dass du mal raus wolltest. Jetzt hast du endlich die Chance dazu. Außerdem bin ich da und pass auf dich auf! Du musst ja nicht allein raus zum bösen Mann!“
„Na ja, wenigstens Amsterdam. Is’ glaub ich ´ne schöne Stadt“, sagte Leon und zuckte mit den Schultern. Er kramte eine Packung Zigaretten hervor und begann, damit herumzuspielen.
„Was… was war das eigentlich vorher?“, fragte er und sah zu Ryan auf.
„Was meinst du?“
„Du weißt, was ich meine. Grinder hat ziemlich lange rumgedruckst. Das macht der doch sonst nicht. Der Grinder, den ich kenne, der hätte uns nicht extra rein bestellt. Das wär ´ne Mail gewesen, mit nix als Betreff: Heute, 20 Uhr, Flughafen und fertig…“
Ryan wusste natürlich worauf Leon hinauswollte. Er zierte sich nur etwas damit herauszurücken. Obwohl er und Leon mittlerweile gut befreundet waren, fiel es ihm immer noch schwer, über seine Vergangenheit zu sprechen.
„Ich glaube, er wollte wissen, ob es für mich okay ist…“, seufzte er und rieb sich die Augen. „…ich hab dir das nie erzählt, aber es war ja damals nicht ganz klar, ob ich hier überhaupt arbeiten darf… oder kann.“
„Meinst du wegen deiner Posttraumatischen Belastungsstörung?“, fragte Leon.
„Ja, deswegen. Ich hab davor schon einmal mit Grinder darüber gesprochen. Damals hat er gemeint, es sei zu früh für mich, wieder an die Arbeit zu gehen. Ein halbes Jahr später hat er dann irgendwie seine Meinung geändert. Ich hab dann aber auch eine Bedingung gestellt. Der hat er zugestimmt.“
„Was für eine Bedingung?“
„Dass ich nicht in den Außeneinsatz muss. Es wäre damals auch undenkbar gewesen. Ich konnte mir das nur erlauben, weil Grinder mich kannte und ich ihn. Sonst hätte das gar nicht funktioniert. Ich wäre gar nicht erst in den Job reingekommen.“
„Hm…“ Leon konzentrierte sich wieder auf seine Zigarettenschachtel. Er klappte sie zweimal auf und zu.
„Und jetzt kannst du wieder in den Außeneinsatz? Du fühlst dich wieder fit?“.
Ryan wusste, dass er diese Frage stellen würde. Er hatte sie sich selbst gestellt, sehr oft sogar. Konnte er wieder in den Einsatz? Er hatte sich schon einmal sicher gefühlt. Damals kamen Depressionen und Panikattacken mit Verstärkung zurück und kosteten ihm fast das Leben. Andererseits war er damals auch alleine damit gewesen. Jetzt, das wusste Ryan, hatte er einen Menschen, mit dem er seine Gefühle teilen konnte, die für ihn da sein würde, wenn er am Abgrund stünde. Die wusste, wer und was er war.
„Ja, kann ich…“, sagte Ryan, etwas überzeugter als er es geplant hatte. Er schluckte und fügte hinzu: „Zumindest für so einen Außeneinsatz. Es ist Amsterdam, es ist kein Kriegsgebiet, keine verdeckte Ermittlung, also alles gut!“
Leon lächelte ihn an: „Tipptopp. Und falls der böse Mann dann wirklich kommt, bin ich ja immer noch da, um dir dein’ Arsch zu retten!“
„Selbst bei einer bösen Frau hättest du Probleme!“
„Leck mich!“, zischte Leon und nahm eine Zigarette aus der Schachtel heraus.
„Warum macht er das eigentlich?“, fragte Ryan und kratzte sich am Hinterkopf.
„Was?“
„Er hat zwar ein bisschen drum herum geredet, aber es klingt so, als würden wir allein handeln. Unabhängig vom restlichen BND…“
„Hm… ich kenne ihn nicht so gut wie du, aber ich glaub, er hat immer noch Probleme mit der neuen Struktur. Wir sind alles, was vom MAD übrig ist. Man kennt ihn ja schon noch, aber vergisst ihn von Jahr zu Jahr mehr. Kann mir gut vorstellen, dass die weiter oben nichts von unserem Engagement in der Sache mitbekommen, weil er ihnen halt auch nichts sagt. Die lassen ihn ja im Kleinen gerne allein handeln. So viel Einfluss hat er dann doch noch.“
Probleme mit der neuen Struktur. Das war tatsächlich ein wunder Punkt Grinders. Vor Jahren hatte man den militärischen Geheimdienst MAD in den deutschen Geheimdienst BND integriert. Anfänglich sollte der MAD noch eigenständig bleiben, nicht zuletzt dank Grinders Leitungstätigkeit und sein hohes Ansehen, doch die Zeiten änderten sich, vor allem in der Informationsbranche. Und genauso wie das Militär mehr und mehr an Wichtigkeit verloren hatte, so verlor der MAD an Relevanz innerhalb des Geheimdienstes. Das ging soweit, dass Koblenz und das Gebäude, in dem sie sich gerade befanden, der letzte Standort war, der noch vom alten MAD herrührte und sich unter dem Befehl Grinders befand. Der Mann, der für Ryan wie ein Vater gewesen war, gehörte einer aussterbenden Art an – und das wusste er auch. Insofern war die Erklärung durchaus plausibel.
„Aber eines versteh’ ich noch nicht ganz“, sagte Leon und unterbrach Ryans Gedankengang.
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