„Das ist von den Amis beziehungsweise von der DARPA“, antwortete Leon im Flüsterton. „ElectRX ist eines der Programme von denen. Im Grunde versuchen sie physischen aber auch psychischen Schmerz durch minimal invasive Eingriffe direkt an den Nervenzellen zu minimieren. Die DARPA forscht schon sehr lange dran. Das bringt uns jetzt aber nicht weiter, was schlagen Sie vor?“, fragte Leon.
„Lügendetekt…“ Verhoeven hatte es noch nicht einmal ganz ausgesprochen, da fiel ihm Ryan bereits ins Wort.
„Oh, kommen Sie. Wir beide wissen, dass diese Maschine so zuverlässig ist wie ein Pendel.“ Der kleine Seitenhieb von eben hatte ihn wütender gemacht als erwartet.
„Wie wäre es, wenn wir uns erstmal alles anhören, was er zu sagen hat?“
„Ich höre mir ja auch sehr gerne Geschichten an, aber dafür haben wir keine Zeit mehr!“
Der Mann im Anzug kam mit einem Päckchen Tempos und einer Dose Cola herein und ging zu Van Doorm in den Verhörraum.
„Ein Lügendetektor wird uns auch nicht weiterbringen.“, sagte Leon, immer noch darum bemüht, die Konversation etwas abkühlen zu lassen.
„Was wissen wir denn noch über den Jungen?“
„Na ja, er…“ Als Verhoeven gerade ausholen wollte, wurden sie von einem dumpfen Schlag aus dem Nebenzimmer unterbrochen. Ryan, Leon und Verhoeven starrten sich gleichzeitig an, blieben einen kurzen Moment wie angewurzelt stehen, lauschten. Nichts war zu hören.
Verhoeven zog seine Waffe, reflexartig wollte Ryan dasselbe tun und griff ins Leere. Er war noch immer unbewaffnet. Verhoeven näherte sich langsam der schwarzen Tür und hielt dabei die Pistole wie einen Schild vor sich ausgestreckt. Er führte die Hand zur Klinke und begann sie langsam zu öffnen. Zuerst einen Spalt breit und dann….
Als Ryan das Knallen der Tür auf Verhoevens Schädel hörte, hechtete er zu Leon und riss ihn mit sich zu Boden. Keine Millisekunde zu spät. Dort wo sie gerade noch gestanden waren, durchschlugen mehrere Kugeln die Wand. Adriaan war aus dem Raum gesprungen, hatte drei Schüsse abgegeben und war durch die zweite Tür des Raumes geflohen. Ryan sprang sofort auf, entriss dem bewusstlosen Verhoeven die Waffe und stürmte hinterher.
Er schnellte hinaus zu den Treppen, seine Waffe zuckte dabei abwechselnd von links nach rechts, um sicher zu gehen, dass Van Doorm ihm nicht auflauerte.
Er wusste was sein Ziel war. Im Erdgeschoss des kleinen Safe-Houses würden bewaffnete Männer auf ihn warten, den Weg konnte er nicht nehmen. Also blieb ihm als einzige Option die gewundene Steintreppe hinauf, wo auch immer die hinführte. Ryan hielt seine Waffe immer nach oben gerichtet und versuchte so nah an den weiß verputzten Backsteinwänden zu laufen wie möglich. Er konnte Schritte auf Stufen hören, dann das quietschen alter Metallscharniere und wie ein Fenster geöffnet wurde. Wenn er ihn erwischen wollte, musste er sich verdammt nochmal beeilen!
Er stürmte die Treppe hinauf, bis er vor einer geöffneten, kleinen Holztür zum Stehen kam. Dahinter verbarg sich ein Dachboden, der nur spärlich beleuchtet, verstaubt und mit alten Möbeln vollgestellt war. Vorsichtig und mit ausgestreckter Waffe überschritt er den Türstock, überprüfte seine rechte Flanke, ehe er sich ruckartig nach links umdrehte, um sich auch vor Angriffen von dieser Seite zu schützen. Doch Van Doorm war längst weg, zwei Meter von Ryan entfernt stand ein Dachfenster sperrangelweit offen und ließ ihn wissen, dass er die Zielperson schon so gut wie verloren hatte. Er schnellte voran, steckte im Gehen die Waffe hinter seinen Rücken zwischen Gürtel und Hose und riss sich dann beherzt mit beiden Händen am Fensterrahmen hoch. Gerade als er nach draußen springen wollte, hörte er einen lauten Knall und ein stechender Schmerz durchfuhr seinen rechten Arm. Scheiße! Er war so ein Trottel!
Das passierte, wenn man lange nicht mehr unterwegs gewesen war und einrostete, man verlor die Basics. Er ließ sich fallen, um unter dem Fenster abzutauchen und damit aus der Schusslinie zu kommen. Hektisch tastete er Brust, Bauch und Beine ab, versuchte in der Dunkelheit des Dachbodens zu fühlen, wo sich der Einschlag befand.
Er hatte Glück. Es war nur ein Streifschuss am Arm, nicht mehr als ein Kratzer. Trotzdem musste er irgendwie die Blutung stoppen. Forsch riss er sich ein Stück seines T-Shirts ab und wickelte es um die betroffene Stelle am rechten Trizeps. Er würde denselben Fehler nicht ein zweites Mal machen, sprang auf und lugte vorsichtig über den Rand des Dachfensters. Adriaan war schon längst weiter gerannt.
Dieser kleine Mistkerl! Er hatte im Verhörraum nicht den Eindruck gemacht, als könnte er mit einer Waffe umgehen. Ryan kletterte aus dem Fenster und fand sich im Dämmerlicht der Stadt auf einem kleinen Spitzdach wieder. Adriaan war bereits zwei Dächer weiter, als Ryan die Verfolgung aufnehmen konnte. Die Ziegel knacksten bei jedem Schritt unter seinem Gewicht und er musste höllisch aufpassen, um nicht abzurutschen oder einzubrechen.
Wenigstens Kondition hab ich noch, dachte Ryan und stellte zufrieden fest, dass er stetig aufholte, zwischen ihm und Adriaan lagen nur noch ungefähr zehn Meter.
„Hey Pferdchen, bleib stehen!“, schrie er ihm hinterher, immer bereit, sofort aus der Schusslinie zu hechten, falls sein Ziel von der Flucht in Angriff übergehen sollte. Adriaan rutschte jetzt vermehrt auf Ziegeln aus, dabei lösten sich manche aus ihrer Verankerung und stürzten in die Tiefe, doch Ryan kam ihm immer näher. In panischem Affekt schlug er einen Haken, bog ab und rannte direkt auf die Spitze des Daches zu. Oben angekommen ließ er sich vornüber nach unten fallen und war nicht mehr zu sehen. Ryan blieb ihm dicht auf den Fersen und bremste erst auf der Dachspitze abrupt ab, um nicht ins Ungewisse springen zu müssen.
Dort oben wurde ihm klar, wohin Van Doorm verschwunden war. Die Häuser, über die sie hinweggerannt waren, hatten an dieser Seite eine lange, zusammenhängende Dachterrasse. Auf dieser Terrasse war Adriaan nach seinem Sprung gelandet und mit ebenem Boden unter den Füßen jetzt wieder ein gutes Stück voraus. Ryan fluchte und ließ sich das kleine Spitzdach bis zur Terrasse hinunter rutschen.
Keine Chance, auf der Ebene bin ich schneller, war sein letzter Gedanke, als er einen Knall hörte. Der Schlag hallte von den Wänden der vielen Häuser wieder, die sie umgaben. Ryan kannte das Geräusch. Er hatte es tausende Male gehört und jedes Mal war es die Nachwehe des Todes. Eines schnellen, aber schmutzigen Todes. Instinktiv ließ er sich vornüber auf den Boden fallen. Hatte ihn da gerade etwas knapp am Hinterkopf verfehlt? Ryan rollte sich in den Schutz der Betonmauer, die die Brüstung der Terrasse bildete. Er blickte auf und konnte gerade noch sehen, wie Adriaan auf die gegenüberliegende Veranda sprang und in einem Haus verschwand. Fuck!
„Ein Scharfschütze?“ Leon war verblüfft.
„Wo soll der denn hergekommen sein?“
„Ich hab keine Ahnung“, seufzte Ryan und rieb sich die Stirn.
„Und weil es keine Kugel gibt, wird mir das auch niemand glauben.“
„Warte mal ab, vielleicht findet die Spurensicherung ja noch was.“
„Nein, ich hab selber zuerst nachgesehen. Vielleicht war das doch noch ein bisschen viel, ich hab da ja eine Vorgeschichte…“
Nachdem klar gewesen war, dass keine Gefahr mehr von herumfliegenden Geschossen ausging, war Ryan zurück zum Safe-House geklettert. Dort wartete bereits ein Krankenwagen auf ihn.
Leon war sichtlich erleichtert gewesen, Ryan wiederzusehen und bestand darauf, dass er sich zu allererst in medizinische Behandlung begab. Nachdem ihn ein Notarzt halbwegs zusammengeflickt und Leon allen nötigen Papierkram unterzeichnet hatte, entschieden sie sich, zunächst etwas essen zu gehen. Solange die Spurensicherung den Tatort zerlegte, konnten sie ohnehin nichts unternehmen. Jetzt saßen sie in einem kleinen Café namens ‚Delirium‘ unter einer Brücke.
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