Keine zehn Minuten später huschten fünf Mann über den Steg zu den Hausbooten, vermummt in schwarzen Sturmhauben, dicken, schusssicheren Westen und jeweils bewaffnet mit furchteinflößenden Gewehren. Dicht gefolgt von Ryan, der seinerseits eine schusssichere Weste trug und eine etwas weniger bedrohliche Handfeuerwaffe der niederländischen Special Forces umklammerte.
Leon hatte sich dazu entschieden, etwas im Hintergrund zu bleiben, Ryan indes hatte darauf bestanden mit dabei zu sein. Er wollte sich selbst etwas beweisen und außerdem war Krüger gefährlich und durfte auf keinen Fall entwischen. Jeder zusätzliche Mann mit Felderfahrung konnte da eine Hilfe sein.
Vor ihnen lagen zwei braun-weiße Boote vor Anker. Von außen war nicht zu erkennen, dass es sich bei Ijburg 1 und Ijburg 2 um Hausboote handelte. Der Bug lag ruhig im Wasser, die Takelage war intakt. Weil es nur einen Steg gab und die Boote parallel nebeneinander vertäut da lagen, war der einzige Weg zur Iburg 2, über das Deck der Iburg 1. Während sie das erste Boot betraten, begann Ryans Blick reflexartig Haken zu schlagen: Oben, der Mast. Unter ihnen. Nasser Untergrund. Aufpassen! Im Wasser. Nichts. Die Hochhäuser um sie herum. Kein Anzeichen auf Feindkontakt.
Die Männer in Schwarz hatten sich inzwischen aufgeteilt. Zwei setzten am Bug auf das Boot über, zwei am Heck. Einer blieb auf der Ijburg 1, für den Fall, dass etwas schiefging. Ryan positionierte sich zunächst mittig, bevor er langsam zu den beiden Männern am Heck hinüber ging, darauf bedacht, auf den feuchten Holzplanken möglichst keine Geräusche auszulösen. Die zwei Männer knieten jetzt links und rechts von etwas, das aussah wie eine Mischung aus Luke und Tür. Das Dach konnte man ein ganzes Stück nach hinten verschieben, die beiden kniehohen Flügeltüren zur Seite wegklappen. Zusammen ergab das den Eingang zum Unterdeck. Ryan würde die Flügeltüren öffnen, dann würde einer die Luke zurückschieben und die Blendgranate werfen. Das war der Plan! Ryan begann mit seinen Händen anzuzählen. Zuerst drei Finger. Dann zwei. Einer.
Ryan hebelte die kleine Flügeltür auf, die Luke öffnete sich, eine Blendgranate flog. Er kniff die Augen so fest er konnte zusammen und wurde trotzdem vom grellen Licht geblendet. Er ließ den beiden anderen den Vortritt und kletterte dann die steile Holztreppe hinab. Die zwei Männer in Schwarz schrien und liefen die Räume ab, Ryan fand sich unter Deck inmitten eines Gemeinschaftsraumes im dämmrigen Licht wieder. Links und rechts von ihm waren jeweils zwei große Tische mit Sitzecken. Das Hausboot war doch beträchtlich größer als es von außen den Anschein hatte. Am ihm gegenüberliegenden Ende lag eine Küchenzeile von stolzer Länge, sogar eine Bierzapfanlage war verbaut worden. Durch die Küche hindurch gelangte man in einen kleinen Gang, der wohl zu den Schlafräumen führte. Einer der beiden Sturmmasken war gerade darin verschwunden und kontrollierte mit lautem Geschrei jedes einzelne Zimmer.
Wenn das Hausboot in diese Richtung so groß ist, dann muss es hinter mir noch weiter gehen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, grob, fest und ungnädig, aber immer noch sanfter als der Hieb, der ihn in diesem Moment am Hinterkopf erwischte. Um ihn herum wurde es schwarz, er ging zu Boden. Im Fallen konnte er aus den Augenwinkeln gerade noch durch eines der Bullaugen nach draußen sehen. Sein letzter Gedanke ging an sie. Mia.
Alles um Ryan herum hatte sich in einen dunklen Schleier gehüllt. Seine Augen waren geschlossen, seine Glieder kraftlos, die Welt hatte sich gegen ihn verschworen. Er konnte zwar nichts sehen, aber... doch... er war sich sicher. Er war noch am Leben!
Es fühlte sich an wie Liegen. Liegen auf einem harten, kalten Untergrund. Er hatte keine Schmerzen, war wie ein Unbeteiligter, ein Zuschauer. Es hatte beschissen angefangen, aber warum bitte musste es dann auch beschissen enden? Und warum jetzt? Es hätte so viele Gelegenheiten gegeben, damals, als er einer kleinen Bodeneinheit der Taliban in die Hände gefallen war. Als sie ihn mit einer Autobatterie und zwei verrosteten alten Kabelzangen folterten. Er war ihnen heute noch dankbar, dass sie an ihm keine Messer benutzt hatten. Ein Freund von ihm hatte nicht so viel Glück gehabt, sie schnitten ihm beide Ohren und drei Finger ab. Er litt heute noch an Depressionen und akuten Angstzuständen. Ryan war darüber hinweggekommen, es hatte an ihm keine Spuren hinterlassen, abgesehen von ein paar kleinen, braun schrumpeligen Stellen an Oberkörper und Schenkeln. Es war vorbei, geschehen, vielleicht sogar nie passiert. Das machte das Vergessen wesentlich einfacher, als den Beweis dafür jeden Tag aufs Neue im Spiegel zu sehen.
Ryan versuchte, seine Augen zu öffnen, musste sehen, was um ihn herum war, ob er sich noch in Gefahr befand. Der erste Versuch scheiterte. Seine Augen verweigerten sich ihm, als hätte sie jemand mit Bleigewichten beschwert. Nächster Versuch. Erfolglos. Noch würde er nicht aufgeben. Schlussendlich hatte er es doch immer geschafft. Es war nur eine Frage der Zeit und Anstrengung! Nach einer Ewigkeit des Kräfteringens bildeten sich endlich Risse, aus Rissen wurden Spalten, aus Spalten immer rundere Löcher.
Das Licht, das ihm beim Öffnen seiner Augenlieder entgegen strahlte, war so grell, dass er absolut nichts erkennen konnte. Seine Rezeptoren gewöhnten sich nur Langsam an die Helligkeit, doch nach und nach konnte er immer mehr Umrisse wahrnehmen. Da war eine Lampe, kreisrund. Er war nicht mehr auf dem Boot, das war sicher. Er schwitzte, spürte ein Stechen in der Beuge seines rechten Arms, konnte aber nicht die Kraft aufbringen den Kopf zu drehen, um nachzusehen, was des Ziehens Ursprung war. Und er war müde, so müde.
Dann war da wieder Mia. Sie beugte sich über ihn und sah ihn an. Er wollte, dass dieser Anblick nie endete! Sie war da! Doch als sie ihn von oben herab betrachtete und ihre Hand auf die seine legte, verließen ihn die Kräfte. Dunkelheit drängte von allen Seiten herein und verschluckte dabei gnadenlos jeden Lichtstrahl, der sich ihr in den Weg stellte. So lange, bis nichts mehr übrig war. Nur stumpfe Schwärze.
Leon hatte nicht gut ausgesehen. Als Ryan in dem Krankenhausbett wieder zu sich kam, saß er immer noch neben ihm, zusammengesunken auf einem Stuhl. Er musste lange dort ausgeharrt haben. An seinem Mundwinkel rann ein dünner Faden durchsichtig glänzender Flüssigkeit herunter. Der Anblick rührte ihn, vielleicht hatte er die Tiefe ihre Beziehung etwas unterschätzt. Weil er nicht so recht wusste, was er hätte sagen sollen, blieb ihm nur die Flucht nach vorn.
„Gott, du siehst aus, als hätte der Krüger DICH erwischt!“
Leon schreckte auf, riss seinen Kopf zuerst ruckartig nach links und rechts, ehe er Ryan verdattert anstarrte. So langsam schien er zu begreifen, wo er war und warum er die letzten Stunden auf einem unbequemen Stuhl zugebracht hatte. Er wischte sich mit seinem Hemdsärmel über den Mund und begann zu grinsen.
„Ja und ich wünschte, du wärst tot!“ Er begann eine nervige Kinderstimme zu imitieren: „Ohhhhh, ich bin Einzelkämpfer, uiuiuiuiui, neeeeeein Leon, du kannst da nicht mitkommen, du wirst dich verletzten, buhubuhubuhu.“
Ryan prustete los, doch ein unbarmherziges Stechen ließ ihn sogleich wieder verstummen. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment implodieren.
„Geht es dir gut?“, fragte Leon und sah ihn besorgt an.
„Den Umständen entsprechend…“ Er setzte sich auf. Bis auf das Dröhnen in seinem Kopf fühlte er keine Schmerzen, alles war so wie vorher.
„Haben sie ihn?“, fragte er mit weit aufgerissenen Augen.
„Ja. Er wurde zu einem Safe House gebracht. Grinder ist bei ihm.“
„Grinder ist in der Stadt?“ Das überraschte Ryan. Er hatte den Generalmajor in den letzten Jahren äußerst selten außerhalb seines Büros getroffen, eigentlich kannte er ihn fast nur noch hinter seinem massiven Schreibtisch sitzend.
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