„So geht das nicht weiter“, sagte Flodur zu Eiramsor. „Sie kann doch nicht immer nur so daliegen, das Leben geht weiter. Das große Ganze wird sich schon irgendetwas dabei gedacht haben.“
Eiramsor stimmte ihm nickend zu. „Und es ist nicht gut, dass der Junge an der Brust einer anderen Mutter liegt. Anhoja, hörst du? Nimm deinen Sohn endlich an!“ Eiramsor schrie meine Mutter an. Aber in Mutters Augen regte sich nichts. Ihr Blick war leer.
Sieben Wochen nach meiner Geburt stand meine Mutter plötzlich auf, so als wäre nichts gewesen. Schwankend ging sie zum Fluss, zog ihr Kleid aus und badete. Die Augen der Dorfbewohner folgten ihr. Niemand sagte etwas.
Mein Vater ging ihr nach, hob ihr Kleid auf und reichte es ihr, als sie mit ihrem Bad fertig war. Er fasste sie mit beiden Händen an ihren Schultern und fragte: „Bist du wieder da?“ Sie nickte und zusammen gingen sie zum Platz in der Dorfmitte. Dort verkündete mein Vater, dass der Schatten von Anhoja gegangen sei und dass heute Abend der Vollmond gefeiert würde.
Ein Windzug fuhr durch das Dorf, so als wenn alle Dorfbewohner gleichzeitig ausatmeten. Die Freude darüber, dass nun endlich wieder das gewohnte Leben weiterging, ließ vereinzelte Freudenrufe erklingen. Schlagartig war auch wieder das Spielen der Kinder zu hören.
Mein Vater Flodur saß abends am Feuer und sagte wie so oft nicht viel. Er mochte nicht das viele Reden, er hörte auch nicht gerne zu. Er war jedoch auch nicht gerne alleine. Er saß einfach wie immer an seinem Platz und schaute ins Feuer.
Meine Mutter Anhoja saß bei den Frauen und redete mit ihnen, redete so, als wäre nie etwas passiert. Es wurde viel gesprochen über das Kochen und welche Kräuter am besten schmeckten, über die Männer und über den bevorstehenden Abend. Es wurde über alles geredet, nur nicht über meine Geburt. Niemand traute sich diese zu erwähnen, doch alle wussten, dass etwas Seltsames passiert war.
In unserem Volk war es Sitte, dass die Frauen sich die ersten sieben Jahre um die Kinder kümmerten - und bei mir war es auch so. Auch um mich kümmerten sich die Frauen, fast alle, bis auf meine eigene Mutter. Immer wenn sie mich sah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Und ich versuchte alles, nur um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Und so klein ich noch war, standen mir nur wenige Mittel zur Verfügung. Ich strampelte und schrie. Doch je stärker ich dies tat, desto weniger sah ich meine Mutter. Also machte ich es immer heftiger und immer lauter. Aber es half nichts. Nur wenn Eiramsor mich in den Arm nahm, fühlte ich mich wohl. Sie nahm mich so an, wie ich war. Sie sagte nicht viel, sie hielt mich und ich konnte mich entspannen. Immer wenn meine Mutter das sah, wurde sie wütend, wütend auf mich und auf Eiramsor. Doch ich verstand nicht, noch nicht.
Ich lernte schnell und viel, viel schneller und viel mehr, als alle anderen Kinder. Mein Vater beobachtete mich sehr häufig, doch je mehr er mich beobachtete, desto weniger sprach er mit mir. Meine Entwicklung bereitete ihm sehr viele Sorgen. Sehr oft, öfter als ihm lieb war, beriet er sich mit den Ältesten des Stammes über mich und mein Dasein.
Ich war anders, anders als alle anderen Kinder, die mein Volk je gesehen hatte. Ich lernte so schnell, dass ich schon mit drei Sommern den Frauen beim Zubereiten der Mahlzeiten helfen konnte. Ich war immer als erster da, immer in der Nähe meiner Mutter, damit sie sah, wie gut ich lernte. Doch je häufiger und besser ich etwas machte, desto mehr entfernte sich meine Mutter von mir.
Nur Eiramsor war immer für mich da, tröstete mich, spielte mit mir, verband meine Verletzungen, die ich mir beim Spielen und Klettern zuzog, oder lächelte mich einfach nur an, wenn sie mich sah. Sie wurde immer mehr zu meiner Ersatz-Mutter.
Auch wenn ich viel mit den anderen Kindern im Dorf zusammen war, blieb ich trotzdem sehr einsam. Nur Flaro, ein Junge in meinem Alter, wurde mein bester Freund. Flaros Mutter war die jüngste Schwester von Eiramsor und so ergab es sich, dass ich viel Zeit im Zelt von Eiramsor verbrachte und immer weniger Nächte im Zelt meiner Eltern schlief.
Als ich sechs Sommer alt war, wurde meine Mutter wieder schwanger. Alle im Dorf waren besorgt und hatten große Angst vor der Geburt. Meine Mutter hatte nun noch weniger Zeit für mich. Meine Nähe ertrug sie nun gar nicht mehr und so zog ich ganz in Eiramsors Zelt.
„Wach auf, wach auf...!“, hörte ich aus der Ferne immer wieder rufen. Doch ich wollte nicht aufwachen, zu spannend und schön war der Traum... Ein weißer Tiger, ich war schon ein Mann, dort war eine wunderschöne Frau und ... Bäume, nicht einer nicht zwei ... ganz viele Bäume, so viele, wie ich sie noch nie auf einmal gesehen habe und immer wieder dieses wunderschöne Gesicht vor mir und der weiße Tiger...
„Nun wach schon endlich auf!“ Eiramsor goss mir Wasser ins Gesicht.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Du hast geschrien und vor Hitze geglüht“, antwortete Eiramsor nicht ohne Sorge.
„Mir geht es gut.“ Doch jetzt erst bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper schweißgebadet und immer noch ganz heiß war. „Ich habe geträumt, von einer wunderschönen Frau und einem weißen Tiger und von ganz vielen großen Bäumen...!“
Ich erzählte ihr alles und sie hörte ganz genau zu. Sie unterbrach mich nicht, nickte nur immer wieder und es störte sie auch nicht, wenn ich mich wiederholte. Ich kühlte wieder ab und hörte auf zu schwitzen. Zärtlich wie eine Mutter hielt sie mich in ihren Armen.
„So, mein Kleiner, nun wird aber wieder geschlafen. Morgen bekommst du einen kleinen Bruder“, sagte sie ganz sanft und streichelte dabei mein Haar.
„Woher weißt du das?“, konnte ich noch vor mich hin murmeln und schlief in ihren Armen ein.
„Du musst dich mehr um deinen Sohn kümmern“, sagte Eiramsor noch kurz vor der Geburt zu meiner Mutter.
„Das werde ich“, antwortete sie stur, „das werde ich!“
Die Sonne stand schon tief, als Eiramsor in das Zelt meiner Eltern gerufen wurde. Ich durfte sie nicht begleiten und so wartete ich mit Flaro vor dem Zelt.
Mittlerweile hatte sich fast der ganze Stamm dort versammelt und obwohl so viele Menschen anwesend waren, hörte man kaum ein Geräusch. Zu groß war die Angst angesichts der Erinnerung an meine Geburt.
Es dauerte jedoch nicht lange und mein Vater kam aus dem Zelt. In seinen Händen hielt er meinen Bruder und streckte ihn stolz in die Höhe. „Mein Sohn, Suiram!“, rief er mit mächtiger Stimme in die Nacht. Tränen der Freude liefen ihm über die Wangen. Das Volk jubelte und es fand ein Freudenfest statt.
Von diesem Tag an änderte sich sehr viel. Meine Mutter strahlte vor Glück und mein Vater redete und redete, wie er noch nie in seinem Leben geredet hatte.
Ich dachte jetzt, da ich einen Bruder hatte und meine Eltern so glücklich waren, würden sie mich auch wieder in ihr Zelt holen. Denn schon zu lange hatte ich in Eiramsors Zelt geschlafen, zu oft lag ich in ihren Armen. Und doch sehnte ich mich so sehr nach der Liebe meiner Eltern.
„Du wolltest dich doch mehr um deinen Sohn kümmern“, sagte Eiramsor, nicht ohne einen Vorwurf in ihrer Stimme, zwei Monde nach der Geburt zu meiner Mutter.
„Und ich sagte, das werde ich“, antwortete diese, ohne ihren glücklich strahlenden Blick von meinem Bruder zu nehmen.
Die Zeit verging und ich verbrachte keine Zeit mehr mit meiner Familie. Flaro wurde zu meinem Bruder und Eiramsor zu meiner Mutter.
Einen Sommer später, es war mein siebter Sommer, kam ich zu den Männern, um einer von ihnen zu werden. Zu einem Jäger.
„Bleib unten“, flüsterte ich zu Flaro. „Bleib bloß unten!“ Flaro zitterte vor Angst am ganzen Körper und er wäre am liebsten aufgestanden und weggelaufen.
„Nein, bleib liegen, sie ziehen an uns vorbei“, sagte ich beruhigend zu ihm, doch die Angst wich nicht aus seinem Gesicht. Ich schlich mich näher zu ihm und hielt seine Hand.
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