„Georges!“, protestierte Camille mühsam, denn sie bekam kaum ein Wort heraus, ohne dass er mit neuen Köstlichkeiten vor ihrer Nase fuchtelte, die sich nun in ihrem Mund zu dem besten Obstsalat mischten, den sie je gekostet hatte. Darüber vergaß sie auch ganz, ihn „Monsieur Laffont“ zu nennen und es fiel ihr nicht einmal auf. Bei den Kirschen dann passierte es: Eine fiel auf ihr weißes T-Shirt und hinterließ sogleich einen dicken roten Fleck. Camille erstarrte.
„Huch!“, machte Georges nur, „Pardon.“ Er sah Camille in die Augen, als sie aufblickte. Sie wusste, dass ihr Mund mit Blaubeer- und Erdbeersaft verschmiert war und nun war auch noch ihr T-Shirt ruiniert. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Aber der Blick in Georges’ ruhige und weise Augen verriet, dass er für seinen Teil ganz genau wusste, was er getan hatte und Camille war in seine Falle geraten. Seine Menschlichkeits-Falle, wie er es später nennen sollte. Schließlich lachten beide, das heißt Georges lachte herzhaft und Camille konnte sich ein verlegenes Lächeln abringen, das ihre schönen weißen Zähne zeigte, zwischen denen nun kaum sichtbar, aber für Camille mehr als deutlich spürbar Himbeersamen klebten. Er hatte sie bloßgestellt, aber irgendwie befreit, von sich selber, von La Brochard.
„Mademoiselle Camille“, sagte Georges und ergriff ihre Schultern, „Ich lese zwar keine Bücher. Aber ich lese Menschen.“
Seit diesem ersten Treffen waren Camille und Georges also irgendwie Freunde und Camille fühlte sich in seiner Gegenwart zu Hause. Nun schob sie ihn durch den spätherbstlichen Park der Seniorenresidenz und fragte sich, wie viel Zeit sie wohl noch miteinander haben würden.
„Camille, schieb doch mal ein bisschen schneller“, sagte Georges plötzlich und richtete sich in seinem Rollstuhl auf. Dann strich er sich durch die Haare. „Da vorne ist das Mädchen, das mir gefällt.“
Irgendwie rührte es Camille und sie hatte auch keine Zeit, um Bitterkeit zu fühlen, wenn sie daran dachte, dass sein Sohn genauso ein Charmeur war. Das Mädchen war eine alte Dame, kaum jünger als er selber, und sie saß mit ihrer Familie auf einer Bank, den Gehstock angelehnt.
„Bonjour, Mademoiselle, bonjour!“, sagte Georges, als sie an ihnen vorbeifuhren und lupfte seinen Hut. Camille lächelte in sich hinein.
Am Abend zogen Wolken auf und dann gar ein Sturm, der den Wald durchrüttelte, als Camille wieder alleine in ihrem großen Herrenhaus saß. Morgen Abend würde sie nach Paris zurückfahren, zurück in ihr richtiges Leben, das sie so sehr hasste. Sie liebte das Schreiben und sie liebte auch, wie die Leute das mochten, was sie schrieb. Und irgendwie mochte sie auch La Brochard, aber im Grund hasste sie ihr Leben. Ein Glück, dass auch das zu La Brochard passte.
Aus Paris hatte sie nur einen Baguette-Rest vom Morgen mitgebracht und in der Speisekammer hier befand sich fast nichts als Wein, ein paar Flaschen Wasser und eine kleine Dose Foie Gras. Aber Camille wollte jetzt keine Foie Gras. Sie schürte das Feuer im Kamin und ging dann hinüber in den kalten Flur zu dem alten Telefon, das an der Wand hing und bereits vergilbt war. Sie wählte die Nummer des Pizzaservices, dessen Reklame sie heute Morgen im Briefkasten gefunden hatte. Sie überlegte kurz, ob sie sich als jemand anderes ausgeben sollte, ließ es dann aber. Camille Brochard bestellt undercover Pizza, wie geschmacklos, dachte sie sich. Auch ließ sie den Gedanken fallen, sich zumindest ein bisschen zu verkleiden, bevor der Lieferant klingelte. Eine Sonnenbrille wäre zu lächerlich, eine Perücke besaß sie nicht und ohne all das würde er sie sowieso erkennen, wenn er sie kannte. Wozu also? Und nicht nur das. War ihr nicht eigentlich alles egal? Natürlich hatte sie ihr Image, und billige Pizza zu bestellen gehörte nicht dazu, aber Lügen gehörten auch nicht dazu.
„Einmal Pizza au jambon für Madame Brochard!“, rief der Pizzajunge, als er von dem Liefermoped gestiegen und seine Wärmebox geöffnet hatte. Er parkte hinter Camilles BMW und das Bild belustigte sie irgendwie, er wirkte wie ein Fremdkörper hier in ihrem Vorgarten mit den Kieselsteinen und dem Brunnen.
„Merci“, sagte sie und hielt ihm zwanzig Euro vor die Nase. „Der Rest ist für Sie.“ Camille wollte die Tür gerade wieder schließen und sich freuen, dass alles glattgelaufen war. Aber entgegen ihrer Erwartung blieb der Junge dort stehen und starrte sie nur an. Ihr Blick verhärtete sich.
„Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Wurzeln geschlagen?“, spottete sie in eiskaltem Ton und schaute den armen Jungen mit seiner albernen Pizzalieferantenkluft von oben bis unten an.
„Nein nein, entschuldigen Sie!“ Er stolperte rückwärts die Treppe herunter und begab sich dann eilig zu seinem Moped.
„Hey!“, rief ihm Camille hinterher, bevor er aufsteigen und losfahren konnte. „Sagen Sie mir Ihren Namen!“, forderte sie ihn auf und es war keine Bitte.
„Luc Martini“ stotterte der Junge. „Aus Avon“, fügte er noch hinzu, obwohl sie gar nicht danach gefragt hatte.
„Ich werde ihn mir merken, Luc Martini“ sagte sie und blickte ihm finster nach.
Gefahr gebannt. Er würde niemandem erzählen, dass er Camille Brochard Pizza geliefert hatte. Doch nicht nur das war eine Erkenntnis, die sie gerade erlangt hatte. Selbst der kleine Pizzajunge kannte ihr Gesicht. Somit war es wohl offiziell: Sie war Frankreichs bekannteste Krimiautorin.
„Camille, dein letzter Roman war ein Splatter. Ein lupenreiner Splatter. Kannst du vielleicht jetzt etwas… Angenehmeres schreiben?“
Die April-Sonne fiel in Bérénice Cléments Büro, hier in dem verglasten Kasten in La Défense. Man konnte weit über Paris schauen und unter ihnen auf die Grande Arche aus Marmor, Glas und Beton. Was für eine Verschwendung, dachte sich Camille jedes Mal, wenn sie hier war. Und hässlich noch dazu.
„Hörst du mir zu, Camille?“, fragte Bérénice und stellte fest, dass das nicht der Fall war. Was war nur los mit dieser Frau? Hoffentlich wurde sie nicht krank oder gab die Schriftstellerei auf, denn sie war eine Goldgrube für den Verlag, und dass Bérénice ihre Lektorin war, öffnete dieser wohl noch auf Jahre sämtliche Karrieretüren. „Ich sagte, dass L’amertume ein Splatter ist. Du hast ordentlich gemetzelt. Aber in Paris gibt es ja auch so viele unliebsame Menschen, nicht wahr?“ Sie lachte kurz auf, eines dieser gefälligen und selbstverliebten Gesten, die offenbar zur festen Gesprächsregel wurden. Camille hasste es.
„Gemetzel? Finde ich nicht“, sagte sie daher nur kurz angebunden und verschränkte die Arme vor der Brust.
Bérénice wurde ernst und strich sich eine Strähne ihres kurzen braunen Bobs aus dem Gesicht, als sie sich auf den Tisch stützte. „Camille, darin sind nicht weniger als zwölf Leichen und alles Männer. Ahnst du nicht, was die Leute von dir denken?“
„Das ist mir gleich. Außerdem ist es eigentlich nur eine Leiche.“
„Ja, vermutlich. Alle zwölf sehen aus wie Marc Laffont. Weiß er davon?“
„Nein, er liest nichts von mir.“
Bérénice Clément nickte und Camille wusste nicht, ob sie ihren Gesichtsausdruck als Erleichterung oder Bedauern deuten sollte. Aber bevor sie sich entscheiden konnte, war der Anflug eines Gefühls bei Bérénice verschwunden und sie war wieder ganz Profi.
„Jedenfalls möchten wir, dass du als Nächstes etwas Angenehmeres schreibst. Einen Krimi, natürlich, aber mit… farbenfroheren Seiten, wenn du weißt, was ich meine. Dein Debüt, L’affiche , war herausragend und unheimlich kreativ. Von L’abîme ganz zu schweigen. Das Périgord – ein Traum! Die Leute mögen Regio-Krimis, wir kommen ja fast mit dem Druck nicht hinterher.“ Bérénice lächelte Camille an und es sollte sie ermutigen. Die sah aber nur ihre Pferdezähne und wollte am liebsten das Gespräch schnell beenden und verschwinden.
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