„Zwei Kugeln Vanille für meine Freundin und fünf Schokolade für mich!“, bestellte sie. Camille setzte ihre Sonnenbrille auf, das war alles unfassbar peinlich.
„Aber natürlich, gerne!“, lachte der Eisverkäufer und machte sich ans Werk. „Fünfmal Schokolade für die Flora von Botticelli und zweimal Vanille für Mademoiselle Brochard.“ Er reichte den Freundinnen mit Schwung und einer halben Verbeugung wie ein mittelalterlicher Diener ihre Bestellung.
„Die Flora ist blond, Sie haben ein schlechtes Gedächtnis. Haben Sie meine Bücher gelesen?“, fragte Camille ungerührt. Sie ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken, die Sonnenbrille und ihr Name gaben ihr Halt. Auch wenn es sie fast aus der Bahn warf, dass ausgerechnet dieser Typ sie erkannt hatte. Camille errötete nie, aber wäre sie nicht La Brochard gewesen, wäre das eine Situation gewesen, in der man hätte erröten können und sollen. In ihrem Eis steckte ein kleines Plastiklöffelchen in Form eines Herzen. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und viel zu alt für pubertäre Symbolik. Dieser unverschämte Eisverkäufer war aber kaum älter als sie und fand seine Idee offenbar unwiderstehlich.
„Fahren Sie morgen auch zum Feuerwerk nach Paris?“, fragte ihn Magali auch noch zu allem Überfluss, ohne dass er Camilles Frage beantwortet hatte. Am kommenden Tag war der 14. Juli und es war ein warmer Sommertag angesagt.
„Bis gerade eben hatte ich morgen noch nichts vor“, antwortete er ihr, schaute aber nur Camille an und lehnte sich nach vorn auf die Theke.
„Großartig! Camille kommt auch und ich bringe meinen Mann mit. Wir essen vorher noch etwas in der Rue des Abbesses und gehen dann hoch zur Sacré-Cœur. Auf dem Vorplatz hat man die beste Sicht. Treffen Sie uns um 19 Uhr vor der Post. Ich bin übrigens Magali.“
„Und ich bin Marc. Es wäre mir ein Vergnügen, Madame Magali und Mademoiselle Brochard.“
Camille ärgerte es, wie er sie Mademoiselle nannte. Ein einfaches Brochard hätte genügt, dieser unverschämte Kerl hatte überhaupt keinen Respekt. Unter keinen Umständen würde sie morgen bei der Verabredung auftauchen. Sie hasste Magali in diesem Moment und konnte gar nicht schnell genug wegkommen von der Eisbude, in der dieser Hansdampf vermutlich gleich der nächsten Mademoiselle einen Herzchenlöffel ins Eis steckte. Ihr Appetit war verdorben und sie entsorgte das Eis nach wenigen Happen in einen Mülleimer. Gleich würden Tauben angeflogen kommen und an der Waffel herumpicken und hoffentlich die Spuren ihrer Schwäche verwischen.
Natürlich war Camille am 14. Juli um neunzehn Uhr vor der Post an der Place des Abbesses erschienen. Der Eisverkäufer war bereits da und zum Glück auch Magali und ihr Mann Laurent. Beide waren lebenslustige Menschen und eine gute Begleitung und Camille war froh darüber, dass Schweigen nicht aufkam und sie auch nicht genötigt war mit diesem Dahergelaufenen zu sprechen. Sie bevorzugte es, ihn nur aus dem Augenwinkel zu beobachten und wenn es sein musste, ein professionelles Gespräch mit ihm zu führen. Ein Glück, dass er sich ebenfalls als Schriftsteller herausstellte. Auch er hatte gerade sein Studium abgeschlossen, allerdings an der Universität in Amiens, und war nun in seine Heimat Fontainebleau zurückgekehrt, wo sein Vater lebte. Etwas veröffentlicht hatte er noch nicht, er schrieb zu der Zeit noch an seinem Erstling. Camille und er unterhielten sich über Literatur und das Business.
„Wenn du davon leben willst, Marc, musst du etwas schreiben, was viele Menschen lesen. Auch in Frankreich wartet niemand auf den nächsten Jean-Paul Sartre. Schreiben ist Arbeit und Schriftsteller sein ein Beruf.“
Marc hatte aufgelacht und Camille dabei seine schönen, ebenmäßigen Zähne gezeigt. „Das mag sein. Aber ich brauche nicht viel. Einen Platz zum Schlafen und Luft und Liebe.“
Camille überhörte die letzte Bemerkung mit Absicht, aber sie fühlte Hitze in sich aufsteigen. Nun war sie doch in eine äußerst unangenehme Situation geraten und sie wünschte sich das Ende des Abends herbei. Dann würde sie eben wieder weglaufen, sie hatte damit kein Problem. Das war eine Art, Schwäche zu überwinden.
„Oder ich muss reich heiraten“, sagte Marc noch im Spaß und rückte seine Mütze so zurecht, dass sie ein bisschen schief saß und zu seinem unwiderstehlichen Lächeln passte.
Spitz bemerkte Camille: „Das wird dir wohl kaum möglich sein.“ Und es klang genauso scharf wie gewollt.
„Vermutlich“, antwortete Marc nur und schaute ihr tief in die Augen. Jetzt hatte Camille ein Eigentor geschossen und das erste Mal seit Jahren hatte sie beim Spielstand des Gesprächs in ihrem Kopf nicht die höhere Zahl an Treffern auf ihrer Seite.
Camille versuchte die Erinnerung an jenen 14. Juli zu verdrängen, als sie nun auf dem Sofa saß und noch immer in ihrer Zeitschrift blätterte, aber sich nicht konzentrieren konnte auf das, was sie dort eigentlich las. Mal wieder eine Regierungskrise, mal wieder Nicht-Neuigkeiten im Kampf gegen den IS und im Kulturteil nur Infos zu Blockbustern, die sie sich niemals ansehen würde.
„Ich fahre morgen zu Georges nach Fontainebleau“, sagte sie laut und hoffte, dass Marc sie in der Küche hören konnte. Es hallte in der beinahe leeren Wohnung mit den hohen Decken. „Soll ich deinem Vater etwas von dir ausrichten?“
Marc kam zurück ins Wohnzimmer und rührte in seiner Tasse Kaffee, während er Richtung Fenster ging und hinaussah. „Grüß ihn von mir und sag, dass ich an ihn denke“, sagte Marc tonlos.
„Du denkst nicht an ihn.“ Es war eine Feststellung und Camille brachte sie ebenso tonlos hervor. Marc könnte jetzt mit ihr streiten, aus der Haut fahren und ihr vorwerfen, wie herzlos sie selber war und wie grausam zu ihrem eigenen Ehemann, wie kalt und verbittert und geistig total verarmt. Er hatte ihr das alles schon mehrfach an den Kopf geworfen, aber es hatte ja doch keinen Sinn. Jede Diskussion war für Camille etwas zwischen Spiel und Krieg und sie gewann eben immer. Also zuckte er nur mit den Schultern und sagte nichts weiter. Er hoffte lediglich, dass sie nicht weiter in seinen Wunden bohrte.
„Denkst du an ihn, wie er langsam körperlich und geistig zerfällt und seine Persönlichkeit schwindet, während er im Seniorenheim sitzt und sich wünscht, seinen Sohn nochmal zu sehen?“ Sie tat es doch, in den Wunden bohren.
„Ja, daran denke ich.“ Marc hatte genug, nahm seine Tasse und verzog sich in sein Büro. Auch wenn er hier vermeintlich nicht schreiben konnte, ein Büro hatte er trotzdem. Die fünf Zimmer mussten irgendwie gefüllt werden und sowohl Camille als auch Marc brauchten dringend einen Rückzugsort. Das wurde ihm jetzt wieder einmal klar.
Camille und Marc besaßen ein Wochenendhaus in Fontainebleau, fünfzig Kilometer südöstlich von Paris. Eigentlich war es Camilles Haus, natürlich. Ein schönes Herrenhaus auf einer Lichtung im Wald, an einer schmalen, schlecht asphaltierten Straße, die sowieso nur von Wanderern genutzt wurde und an diesem Samstag von Camilles SUV-BMW, den Marc abfällig Flusspferd nannte. In der Tat waren SUV sehr bullige Autos und vom erhobenen Fahrersitz hatte man alles im Blick. Perfekt für Camille. Mit einem SUV bekam sie den Respekt, den Porschefahrer schon längst nicht mehr bekamen: Denen der Fußgänger auf den Zebrastreifen. An diesem Samstag aber fuhr Camille nicht schnell und auch nicht aggressiv, sondern eher gemächlich, fast nachdenklich. Es war ausnahmsweise ein sonniger Novembertag und die Luft klar und kühl. Als sie in die Straße zu ihrem Haus einbog, wirbelten letzte Herbstblätter durch die Luft und auf die Straße. Leise öffnete sich das elektrische Tor und sie fuhr hindurch, über helle Kieselsteine, die unter den Reifen knirschten. Dann stellte sie den Wagen vor dem Haus ab und blieb einen Moment darin sitzen. Wie friedlich es hier war, ein kleines Refugium, wobei es „klein“ nicht traf. In diesem Haus könnte sie eine Großfamilie und zwanzig Angestellte unterbringen. Aber sie hatte diesen Ort ganz für sich. Die langen Flure, die leeren Zimmer, das alte Mobiliar. Sie würde zunächst die Fensterläden öffnen und die kalte Luft hereinlassen und dann den großen Marmorkamin im Wohnzimmer anheizen. Schließlich würde sie sich in eine Decke eingewickelt in den alten Ohrensessel setzen und durch die großen Fenster hinaus in den Garten schauen. Zeit zum Durchatmen.
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