„Du kannst in fünf Minuten wiederkommen“, sagte sie also nur knapp. Namira nickte glücklich und verzog sich wieder.
Camille atmete einmal tief ein, klappte den Laptop zu und strich die widerspenstige Haarsträhne zurück hinters Ohr. Dann fielen ihr die Vögel wieder ein, die nun im Sekundentakt das Fenstersims anflogen. Namira würde es sehen. Also öffnete Camille das Fenster erneut, diesmal hastig, und wischte die Nüsse herunter, die sich in der Luft zerstreuten und dann tief hinunter in den Innenhof fielen.
„Bonsoir, Chérie!“ rief Marc, als er die Wohnung betrat. Es hallte durch den Flur bis in das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer, in dem Camille saß und in der aktuellen Ausgabe von Le Point blätterte. „Chérie“ war eine Lüge, aber das „Bonsoir“ meinte er durchaus ernst, das wusste Camille. Immerhin stritten sie selten, was jedoch Camille zu verdanken war. Sie gewann jeden Streit. Marc ging ihr also aus dem Weg und begnügte sich damit, freundlich zu sein und Gewohnheiten zu frönen.
„Bonsoir, Marc.“ Camille schaute nicht auf. Sie hockte in einer Ecke des großen weißen Sofas und hielt in der freien Hand eine Tasse Ingwertee. Marc hatte ein kleines Büro nicht weit von ihrer Wohnung gemietet. Er brauchte die Trennung von Beruflichem und Privatem und konnte nur arbeiten, wenn er nicht bei Camille zu Hause war. Sein kreativer Fluss floss eher gemächlich, aber das war für ihn selber ein Zeichen von Anspruch und Qualität. Es konnte durchaus vorkommen, dass er einen Tag in seinem Büro – das er Atelier nannte – verbrachte und gerade einmal drei Sätze schrieb. Gerne verwies er dabei auf James Joyce, und Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag gebaut. Er lachte immer, wenn er sein langsames Arbeitstempo erklärte und das hatte etwas Sympathisches, aber im Grunde meinte er es sehr ernst. Ein Wunder, dass er es geschafft hatte, im letzten Jahr seinen neuen Roman zu veröffentlichen, seinen dritten überhaupt erst. Ein dünnes, schmales Büchlein über die Kunst der Erinnerung.
„Ein bisschen wie bei der Madeleine von Marcel Proust, nur dass hier eine Tasse Kaffee aus Tansania meine Erinnerung angeregt hat.“ Immer, wenn er der Presse diesen Satz sagte, zwinkerte er, denn ihm gegenüber saßen überwiegend Journalistinnen. So war die Branche eben, die Kultur, mit Ausnahme der Hochkultur, war den Frauen überlassen und Marc war das absolut recht. Und häufig hatten sie ihn auch noch auf den geringen Umfang und die trotzdem atmosphärische Dichte seines Werkes angesprochen. Marc hatte diese Bemerkung erwartet und stets antwortete er: „Es kommt nicht auf die Länge an.“ Wieder ein Zwinkern. Wie er das Erröten der Journalistinnen genoss!
Camille nahm den letzten Schluck Tee und stellte die Tasse zurück auf das Beistelltischchen, wie immer den Bodensatz mit den Schwebstoffen übriglassend. Sie wusste auch, dass Namira die Tasse morgen, in dem Glauben sie sei ganz leer, in den Geschirrspüler stellen würde und sich beim Umdrehen den Rest auf die Schürze kippen würde. Aber das war ihr ganz recht, denn wer nicht lernte musste eben erfahren. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen und Camille sah keinen Grund, sich nicht ein bisschen über die Missgeschicke anderer zu freuen.
„Bist du heute gut vorangekommen, Marc?“, fragte sie ihren Mann und sah ihn jetzt aus ihren durchdringend blauen Augen an. Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und legte beide Arme auf die Lehnen, als hätte er einen körperlich anstrengenden Tag gehabt.
„Vorankommen, was heißt das schon?“, seufzte er, „Das ganze Denken ist ein steter Fluss.“ Er schaute Camille an und zwar länger als gewöhnlich. Dann stand er auf. „Pardon, Chérie. Ich habe dich gar nicht richtig begrüßt.“ Er wollte ihr einen Kuss geben. Camille drehte sich weg und ließ sich auf die Wange küssen. So nicht, Monsieur. Auch heute nicht und am liebsten gar nicht mehr. Er verstand und ging in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Marc trank jeden Abend Kaffee, es machte ihm nichts aus, dass das Koffein ihn wach hielt, denn für gewöhnlich verbrachte er die Abende und manchmal auch die Nächte in der Bar um die Ecke oder rauchend und sich in Melancholie suhlend auf der Dachterrasse.
In den Jahren, in denen sich Camille und Marc schon kannten, hatte sie festgestellt, wie berechnend er sein konnte und tat alles dafür, dass er keinen Erfolg hatte. Marc war einer jener Menschen, die andere Menschen anzogen wie ein Magnet. Er hatte braune Locken, wie sie Frauen so gerne hatten, und trug stets einen modischen Hut und einen Dreitagebart, was ihn verwegen aussehen ließ. Um die Augen hatte er Lachfältchen und er beherrschte ein Lächeln, bei dem er den Kopf leicht schief legte, einen Finger an die Wange und dann nur einen Mundwinkel nach oben zog, wobei sich Grübchen bildeten. Auch Camille war diesem Lächeln verfallen, damals vor fast vier Jahren.
Camille war mit ihrer besten und einzigen Freundin Magali in Fontainebleau gewesen, ein beliebtes Ausflugsziel der Pariser am Wochenende. Sie waren in dem kühlen Wald spazieren gewesen und hatten anschließend ein Eis gegessen. Camille hatte gerade ihren dritten Roman erfolgreich veröffentlicht und auf der Straße erkannten sie immer mehr Leute, jedoch sprach sie niemals jemand an. Camille bemerkte aus den Augenwinkeln, wie hin und wieder jemand sein Fotohandy zückte und verstohlen auf den Auslöser drückte, wenn sie stehenblieb und sich etwa die Auslage eines Geschäftes ansah. Eine Mine verzog sie dabei nie und niemand fühlte sich ermutigt, sie anzusprechen.
An jenem Tag aber war sie gut gelaunt und Magali sowieso. Ihre Freundin war ein Sonnenschein von Person und hochschwanger gewesen. Wann immer sie sich trafen, und das war nicht allzu oft, obwohl Camille sie als beste Freundin bezeichnete, schwelgten sie in Erinnerungen an ihre Studienzeit an der Sorbonne.
„Erinnerst du dich, wie Jacqueline betrunken ihr Referat hielt? Das war so großartig. Sie wollte eigentlich über Flaubert sprechen, aber dann erzählte sie nur etwas von Apollinaire und seinen Alcools.“ Magali kicherte. Camille nicht, aber sie lächelte immerhin, denn Jacqueline hatte sich ihren Respekt verdient.
„Natürlich. Sie war hervorragend. Eine fantastische Idee, wie sie nur wenig Betrunkene je haben.“ Camille wusste, wovon sie sprach und die Erinnerung versetzte ihr einen Stich. Immer, wenn sie nicht an ihre Familie denken wollte, so wie an diesem sonnigen Tag, dann passierte es doch und riss sie in einen dunklen Abgrund aus Erinnerungen und Schwäche.
Magali stupste sie an. „Schau mal da rüber zu der Eisbude.“ Ihr Blick war an dem Eisverkäufer mit seiner schiefen weißen Mütze hängen geblieben, der gerade kunstvoll einem Kind eine Eiswaffel reichte und dann die Münze flippen ließ, die es ihm gab. „Ich glaube, du hast jetzt auch Lust auf Eis, Camille. Komm mit!“
Magali hievte sich hoch und stützte sich dabei auf Camilles Schultern.
„Ich möchte kein Eis“, sagte sie. Denn auch ihr war der Eisverkäufer nicht entgangen und sie wollte alles andere als ihm jetzt auch noch näherkommen, diesem Hallodri, diesem Zirkusclown. Aber ihre Freundin kannte sie nur zu gut, denn sie war auch in ihrer schwächsten Zeit an ihrer Seite gewesen. Damals, als sie noch über Gefühle sprach und gemeinsam mit Magali lachte, in jenen unbeschwerten Momenten, die sie sich gegönnt hatte. Aber da war sie jung und dumm, wenn auch niemand außer ihr selber das so gesehen hatte.
„Ich muss Eis essen, ich bin schwanger. Und wenn du mich nicht dorthin bringst, dann gehe ich eben alleine und der beau gosse wird sofort wissen, warum du mich nicht begleitet hast. Nicht so schüchtern!“ Magali watschelte los.
„Ich bin nicht schüchtern“, hatte Camille schwach protestiert und auch nur ganz leise. Immerhin waren sie hier in der Öffentlichkeit und sie eine erwachsene Frau und noch dazu eine erfolgreiche Schriftstellerin, man könnte sie überall erkennen. Was dachte sich Magali dabei, sie so bloßzustellen?
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