Aber sie würde noch Zeit haben, um ihre Härte zur Perfektion zu bringen, denn sie war noch jung. Man mochte es kaum glauben, aber Camille Brochard war erst neunundzwanzig Jahre alt. Nicht dass sie älter aussah, denn sie war durchaus hübsch und bis auf die leichte Zornesfalte faltenfrei und rank und schlank. Chic, wie alle Pariserinnen. Aber alles an ihr, was nicht mit ihrem Aussehen zu tun hatte, war alt und sehr erwachsen. Während ihre Kommilitonen sich früher auf Partys gehen ließen und feierten, jung zu sein, konnte Camille nur spöttisch auf sie herabschauen und bis spät in die Nacht für die Uni arbeiten oder an ihrem ersten Roman. Sie würden sich noch wundern, fand sie, wenn sie nach dem Abschluss ein Praktikum nach dem nächsten machen würden und mit dreißig herumjammerten, dass die Gesellschaft am Abgrund stehe und die Wirtschaft die jungen gut Ausgebildeten ausbeute. Eine frappierende Naivität, fand Camille schon damals und stellte immerhin die Weichen für ihr eigenes Leben richtig. Dass das Talent zum Schreiben etwas war, das man sich nicht erarbeiten konnte, wurmte sie durchaus, denn sie war ein Freund von harter Arbeit und Kompromisslosigkeit. Wann immer sie gefragt wurde, wie sie denn auf ihre Ideen kam und wie sie es hinbekomme, ihre Figuren so plastisch wirken zu lassen und die Geschichte so packend, antwortete sie immer: Mit harter Arbeit. Das war eine Lüge, aber es war eine, die Camille selber glaubte.
Nun stand sie also vor dem Spiegel und probte den Gesichtsausdruck zu ihrem neuen Roman. L’amertume . Das war für sie sehr einfach, weil nur zu gut bekannt. Bitterkeit war das Gefühl, das sie am meisten spürte in jenen kleinen schwachen Momenten, die sie nicht kontrollieren konnte. Bitterkeit spürte sie manchmal, wenn sie im Fernsehen an jenen Schmonzetten vorbeizappte, die sie hasste und ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf glücklichen Gesichtern landete, die auf das Meer schauten oder in die Augen ihres Geliebten. Bitterkeit spürte sie auch, wenn ihr Blick an einer buchartigen Box in ihrem Bücherregal hängen blieb, in dem sich die Fotos aus ihrer Kindheit befanden. Sie stand ganz oben in ihrer Bibliothek, beinahe außer Sicht, aber nie weit genug entfernt, als dass ihr Inhalt nicht doch einen Weg in Camilles trübe Gedanken an die Vergangenheit fanden. Und schließlich spürte sie Bitterkeit, wenn ihr Mann Marc Laffont mit ihr sprach und das Gefühl, das er währenddessen spürte, Gleichgültigkeit war.
Laffont. Natürlich hatte Camille ihren Namen behalten, als sie ihn vor zwei Jahren geheiratet hatte. Ihr Name war ihre Marke und außerdem ihr Anker der Stärke, an dem sie sich festklammerte. Camille Laffont, das klang höchstens nach einem Hausmädchen, in jedem Fall aber viel zu jung und lieblich. Auch Marc war ein erfolgreicher Autor, jedoch weit entfernt von dem Ruhm seiner Frau. Er verdingte sich mit „echter Literatur“, wie er gerne betonte. Feingeistige Geschichten, verpackt in komplizierte Satzkonstrukte, die seinen Lesern und ihm selber Anspruch vermitteln sollten. Mittlerweile konnte Camille darüber nur lächeln, aber sie ließ ihn in dem Glauben, dass er Literatur fabrizierte und sich in vierzig Jahren Hoffnung auf den Literaturnobelpreis machen konnte. Ihr war es recht, dass sie die Ernährerin im Haushalt war und noch viel besser gefiel es ihr, wie Marc darunter litt. Dieses Gefühl der spöttischen Freude überdeckte ihre Bitterkeit bei weitem.
Camille setzte sich wieder an den Schreibtisch in ihrer großen Bibliothek, die ihr auch als Arbeitszimmer diente. Ihr Schreibtisch war aus schönem Mahagoniholz und sehr teuer gewesen, ebenso das helle Parkett. Von der Wohnung ganz zu schweigen. Altbau, hohe Decken, Balkone mit verschnörkelten Eisengittern. Fünf Zimmer, allein für sich und Marc. In den guten Momenten ihrer kurzen Beziehung hatten sie auf der Dachterrasse gesessen, Wein getrunken und ihren Blick über Montmartre schweifen lassen. Ihre Wohnung lag unterhalb der Sacré-Cœur und Camille mochte das Monumentale, das sie im künstlichen Licht der Nacht ausstrahlte. Sie konnte durchaus zugeben, dass sie auch Dinge mochte, sie war kein Unmensch, trotz ihres Images. Aber Enthusiasmus lag ihr fern. Ihr Humor bestand nicht darin, über die Witze anderer zu lachen, sondern selber trockene, spröde Witze zu machen, über die andere lachen konnten, während sie selber keine Mine verzog.
Es war November, ein äußerst trüber Monat, selbst in Paris, der Stadt des Lichts. Camille hatte also gerade ihren neuen Roman beendet, der diesmal in Paris spielte, in einem schönen Palais, wie sie ihn selber bewohnte. Eine Kriminalgeschichte, die brutal und raffiniert zugleich war. Diesmal waren ihre beiden Protagonisten ein Schriftstellerehepaar und die Mörderin die Frau. Wer das Opfer war, versteht sich von selbst. Dieser Roman würde hohe Wellen schlagen, dessen war sie sich sicher, und das nicht nur in der Öffentlichkeit. Sie war darauf vorbereitet. Im Einreißen dessen, was sie sich aufgebaut hatte, war sie schon immer gut gewesen, keine Freundin, kein Freund, keine Verwandten hatten es lange mit ihr ausgehalten. Aber wenn Gliedmaßen krank waren, musste man sie eben abschneiden, das war sicher.
Camille schaute mit leerem Blick aus dem Fenster. Die Arme hatte sie verschränkt, ihr war plötzlich sehr kalt. Eine blonde Strähne löste sich aus dem nach ihrer Fotoprobe vor dem Spiegel eilig gebundenen strengen Haarknoten und fiel ihr ins Gesicht. Draußen war der Himmel grau, ein kompaktes Grau ohne Unterbrechung und Hoffnung auf Besserung. Der Winter würde lang werden.
Nach einer ganzen Weile stand sie auf, öffnete eine Schublade ihres Schreibtisches und dann das Fenster einen Spalt breit. Sie holte eine Handvoll Nüsse aus der obersten Schublade und legte sie auf das Sims. In der Dachrinne über ihr hörte sie das Kratzen von kleinen Spatzenfüßen und wie sie in dem Sand und Schmutz nach Essbarem suchten. Camille schloss das Fenster wieder und setzte sich auf die Fensterbank. Keine zehn Sekunden später kam der erste Vogel angeflogen und beäugte das Festmahl, das ihm bereitet wurde, erst zögerlich, bevor er angehopst kam, gekonnt in einer Millisekunde eine Nuss herauspickte und davonflog. Flugsaurier hatte Camille die Vögel immer genannt, früher, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, aber schon viel schlauer als die Kinder in ihrem Alter, die noch nichts von der Evolution und dem Massenaussterben vor zig Jahrtausenden gehört hatten.
Das Schloss klickte und die Tür öffnete sich langsam. Camille fuhr zusammen und sprang von der Fensterbank herunter.
„Yolande! Was machst du noch hier? Es ist Nachmittag, deine Arbeitszeiten sind morgens.“
In der Tür stand eine kleine Frau, die kaum älter als Camille war. Ihre Schürze spannte über ihren üppigen Rundungen und die Hände spielten nervös an einem Staubtuch, das sie bei sich trug. Wie immer wagte sie es nicht, ihre Arbeitgeberin zu korrigieren. Ihr Name war Namira, ihre Vorgängerin war die alte Yolande gewesen, das hatte sie bereits erfahren. Yolande hatte einige Jahre Camilles Haushalt geführt, bis sie vergangenes Jahr starb. Camille hatte die Beerdigung bezahlt und auch die Trauerfeier für ihre Familie. Anwesend war sie jedoch nicht gewesen. Camille wusste sehr gut, dass Namira nicht Yolande war, denn Yolande war unersetzbar, aber sie machte sich nicht die Mühe, sich ihren Namen zu merken. Schließlich hörte sie auch auf sie, wenn sie sie nannte wie sie wollte.
„Madame, ich sollte diesen Freitag Ihre Bibliothek saubermachen, aber Sie waren den ganzen Morgen hier drin.“ Schüchtern blickte die Frau zu Boden. Camille legte sich im Kopf eine passende Antwort zurecht. Was erlaubte sich diese Frau! Dann aber musste sie zugeben, dass sie recht hatte. Der Freitag war ausgemacht gewesen und tatsächlich hatte Camille heute nicht gearbeitet, sondern lediglich den ganzen Morgen, Mittag und nun auch die ersten Stunden des Nachmittags in diesem Zimmer mit ihren eigenen Gedanken verbracht und Posen vor dem Spiegel geübt. Das war ihr in der Tat ein bisschen unangenehm, aber sie ließ sich nichts anmerken.
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