Wenn dieser Bus doch nicht so langsam kriechen würde, dachte er ungeduldig.
Und dann machte es “klick” bei ihm. Der Bus! Er würde einfach mit dem Linienbus weiterfahren. Er überholte bei der nächstbesten Gelegenheit den Bus.
Glück muss der Mensch haben, dachte Thomas, der Bus fährt nach San Juan de las Galdonas.
Den Bus im Visier behaltend fuhr Thomas voraus und spähte die Straßenränder nach einer Bushaltestelle ab. Da, dort vorn warteten Leute. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße und vergewisserte sich, dass der Bus auch wirklich hielt. Dann eilte zu dem Bus hinüber.
“San Juan de las Galdonas!”, meinte Thomas, bezahlte und ließ sich auf einen der freien Plätze fallen.
Der Bus zuckelte die staubigen Straßen entlang, und Thomas hatte das Gefühl, dass er nie am Ziel ankäme. Aber irgendwann sah er doch das Ortsschild und war erleichtert. In der Ortsmitte stieg er aus und sah sich suchend um. Er entdeckte aber recht schnell ein Hinweisschild, auf dem “Playa” stand.
Na, dann werde ich mich mal zum “Anwesen” meines lieben Herrn Bruders begeben, murrte er innerlich, der ja keine weitere Angabe in seiner Adresse als “Playa grande No.18” benötigt. Womöglich ist der hier so bekannt wie ein bunter Hund. Oh weh, hoffentlich geht das alles gut.
Allerdings fand er nur Fischer am Strand vor und Badegäste. Keinen Jeremiah. Schließlich beschloss er, mal einen der Fischer zu fragen.
Und wie das Leben nun mal so spielt, geriet er ausgerechnet an Eugenio, der am Tag zuvor das Foto von ihm gesehen hatte.
“Pérdon”, versuchte sich Thomas auf Spanisch zu verständigen, “donde esta Jeremiah McNamara?” (Entschuldigung, wo ist Jeremiah McNamara?)
Hoffentlich versteht er mich, dachte Thomas, oder besser gesagt, hoffentlich verstehe ich ihn. Denn das bisschen Spanisch, das ich kann, reicht vielleicht nicht, wenn er jetzt in einem Wahnsinnstempo antwortet. Warum hab ich nur Französisch und Latein vernünftig gelernt und auf Spanisch nicht sonderlich viel Wert gelegt!
Eugenio beäugte den Fremden ein wenig kritisch und antwortete nicht sofort. Thomas wurde unruhig, weil er befürchtete, dass man auch schon hier nach ihm suchen würde und kramte in seiner Brieftasche, weil er hoffte, dass sich in irgendeinem wenig genutzten Fach ein Foto von seinem Bruder befinden könnte. Aber Fehlanzeige!
Kein Wunder, dachte er, das hätte ja auch nur unnötig Platz weggenommen.
Eugenio beobachtete das Kramen seines Gegenübers mit Belustigung und meinte schließlich in nicht besonders gutem Englisch: “Sie Thomas, nicht?”
Thomas starrte Eugenio an, als habe der ihm gerade einen ganz grandiosen Zaubertrick vorgeführt. Aber gleichzeitig bekam er es auch mit der Angst zu tun.
“Wieso, wieso kennen Sie mich?”
“Ich gesehen Foto von Ihnen gestern”, erklärte Eugenio, “Bruder dort drüben.”
Eugenio deutete über den Strand zu einer Hütte, die Thomas nur schemenhaft in einer kleinen Bucht erkennen konnte.
“Sie gehen zu Bootsverleih. Solimár dort.”
“Solimár?!”, fragte Thomas ungläubig und zog die Augenbrauen hoch, “ist das der Name seiner Firma?”
“Ist Spitzname und Name von Firma. Aber sein lieb zu ihm, er gestern sehr wütend auf Sie, als ich gefragt ihn, wer Mann auf Foto.”
“Ja, ja, ich werde lieb sein”, antwortete Thomas wie durch einen Nebel, “und vielen Dank noch...”
“Okay, Señor”, erwiderte Eugenio und blickte dem Amerikaner versonnen hinterher, der sich auf den Weg zu der Hütte gemacht hatte.
Oh weh, dachte er, hoffentlich geht das gut. Wenn ich daran denke, wie sehr sich Solimár gestern schon wegen des Fotos aufgeregt hat, wird er nicht gerade begeistert sein, wenn sein Bruder leibhaftig vor ihm steht.
Jerry war bester Laune, denn ein äußerst erfolgreicher Tag lag hinter ihm. Er hatte heute ein schönes Sümmchen verdient, weil ausgesprochen viele Leute bei ihm Boote gemietet hatten.
Jetzt am späten Nachmittag hatte er es sich in seiner Hängematte im Schatten gemütlich gemacht. Er schaukelte wie ein kleiner Junge hin und her und zählte die Geldscheine, um sie anschließend hochzufrieden in seine Hosentasche zu stecken. Was für ein Gefühl, sich auf den Früchten seiner Arbeit auszuruhen!
Jerry döste ein bisschen und schlief schließlich ein. Als er erwachte, senkte sich schon die Sonne.
Heute mache ich nichts mehr, entschied er sich, es wird schon bald dunkel. Diese blöden Amerikaner würden wahrscheinlich jetzt erst richtig durchstarten und zu allen möglichen Meetings rennen. Der ganze Tag ist durchgeplant. Time is money. Diese Workoholics machen womöglich noch einen Termin dafür, wann sie das Leben genießen wollen, frei nach dem Motto: Morgen zwischen 14.30 Uhr und 16.00 Uhr Leben genießen . So ein Irrsinn.
Weil Jerry keine Motivation zum Arbeiten mehr verspürte, blieb er einfach in der Hängematte liegen und überlegte, was er heute Abend anstellen könnte. Vielleicht in der örtlichen Bar ein paar Mädels aufreißen. Oder mit Eugenio oder anderen Freunden einen trinken. Oder beides. Das eine schloss das andere ja nicht aus.
Ganz in Gedanken versunken blickte er über’s Meer, dessen Wellen sich sanft am Strand kräuselten. Die tiefstehende Sonne färbte das Wasser in allen Farben von sonnengelb bis weinrot. Die kleinen weißen Schaumkronen auf den Wellen blinkten wie eine Kette von Diamanten. Und im Hintergrund sah er die dunklen Silhouetten der Palmen und anderen Bäume.
Schön ist es hier, dachte Jerry, ich möchte nie mehr zurück in die Staaten. Wenn ich da an New York denke, laut, miefig, hektisch, dann frage ich mich, wie ich es so lange dort ausgehalten habe. Und erst diese elende Kälte im Winter. Und die furchtbare Hitze in den Straßenschluchten im Sommer. Nein danke, das ist die beste Entscheidung meines Lebens gewesen, hierher zu kommen und an diesem Strand zu leben. Und vor allem gibt es hier keinen Dr. Thomas McNamara. Der ist weit weg und quält in muffigen Gerichtssälen irgendwelche armen Sünder, die vor ihm zusammenzucken wie das Kaninchen vor der Schlange. Ob Thomas im tiefsten Inneren ein Sadist ist, dass ihm das so viel Spaß macht, andere Leute ins Gefängnis zu bringen? Könnte sein! Nur jemand, der sadistisch veranlagt ist, kann so viel Gefallen daran finden, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr mit seiner Besserwisserei andere Menschen an den Rand des Wahnsinns zu treiben.
Jerry schüttelte sich unwillkürlich bei dem Gedanken an seinen Bruder.
Nur gut, dass ich den schon lange nicht mehr gesehen habe und auch in den nächsten Jahrzehnten nicht sehen werde, dachte er. Die Karibik ist nichts für Thomas, viel zu lebenslustig für einen knochentrockenen Spießer wie den. Bei Thomas muss alles immer ganz gesittet zugehen. Wahrscheinlich macht der sogar Sex nach Gebrauchsanleitung.
Jerry konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder mal in eine Situation geraten könnte, in der er sich total gehen ließ.
Gut, dass dieses Verhalten nicht erblich ist, dachte er, aber es tut bestimmt weh. Wahrscheinlich schluckt er den ganzen Tag Schmerztabletten, um es ertragen zu können. Vielleicht ist er deshalb auch so verbiestert. Egal, verschwende bloß nicht noch mehr Gedanken an diesen Besserwisser, Jerry. Er ist zum Glück weit, weit weg.
Gerade in dem Moment, als sich Jerry entschlossen hatte, nicht mehr an seinen Bruder zu denken und sich genüsslich in die Hängematte kuschelte, sah er einen Mann am Strand entlang auf ihn zukommen. Aufgrund der untergehenden Sonne konnte er ihn erst nicht gut erkennen.
“Bist du das, Eugenio?”, meinte er fragend in die Richtung des Besuchers und kniff die Augen zusammen. Dann aber fuhr er wie von der Tarantel gestochen hoch und rieb sich die Augen. Das war eine Fata Morgana, hoffentlich war es eine! Er hatte doch im Schatten geschlafen, sonst hätte er auf Sonnenstich getippt.
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