Kein Wunder, dass es Thomas heiß und kalt geworden war, als er diese Zeilen las. Und ihm war auch klar, dass Ramírez irgendwie über den Immobilienmakler informiert worden sein musste.
Der Makler hatte sofort Kontakt zu dem Drogenbaron aufgenommen, und der hatte umgehend Informationen eingeholt, warum sich McNamara in Venezuela befand. Thomas’ Sekretärinnen waren von ihm angewiesen worden, als einzige Erklärung für die Reise nach Südamerika anzugeben, es handele sich um eine persönliche Angelegenheit. Anschließend hatte Ramírez diesen Brief verfasst, wobei er bewusst darauf geachtet hatte, dass sich seine Fingerabdrücke auf dem Papier befanden. Die waren der Polizei nämlich wohlbekannt. Dann hatte er zuerst den Boten mit dem Brief zu Thomas geschickt, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Richter auch wirklich auf seinem Zimmer sein würde. Anschließend sollten die beiden falschen Polizisten Thomas gefangennehmen, sobald der den Brief gelesen hatte und auch seine Fingerabdrücke auf dem Papier waren. Ursprünglich hatten Ernesto und Antonio Anweisung, den Richter in Untersuchungshaft zu stecken, wo ihn dann die Handlanger von Miguel raushauen sollten - schließlich lässt man Freunde nicht in der Patsche sitzen. Anschließend sollte er auf Miguels Landsitz in Kolumbien gebracht werden, wo der ihn in einen extra für den Juristen hergerichteten Kerker stecken wollte mit einem Messingschild darüber, auf dem “Dr. Thomas McNamara, Vorsitzender Richter des Obersten Gerichtshofs von New York City” stand. Und dort würde Thomas eine Menge Zeit zum Nachdenken haben, denn Miguel wollte ihn nicht umbringen, sondern nur die Informationen aus ihm herausquetschen, die er von seinem Erzfeind haben wollte, ganz besonders aber auch den Grund für Thomas’ Reise nach Venezuela. Anschließend hatte er vor, den Richter geschickt zurück in die Hände der Polizei zu spielen, und zwar der richtigen Polizei. Die besaß ja den Brief, und außerdem wollte Miguel der Gerichtsbarkeit noch einige andere hieb- und stichfeste Beweise unterjubeln, so dass Thomas keinerlei Chancen haben würde, seine Unschuld zu beweisen. Auf diese Weise würde der vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs von New York City für den Rest seines Lebens genau dorthin wandern, wo er zuvor seine Angeklagten hingeschickt hatte, nämlich ins Gefängnis. Und das würde für ihn - mal ganz abgesehen von dieser entsetzlichen Demütigung und Ungerechtigkeit, weil er ja unschuldig im Gefängnis saß - ein schrecklicher Spießrutenlauf werden, denn die Männer, die er in den Knast gebracht hatte, würden bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bot, es ihm heimzahlen. Von daher war Miguels Idee, dafür zu sorgen, dass sein Erzfeind unschuldig ins Gefängnis kam, ein noch größerer Triumph für ihn, als wenn er ihn zur Strecke gebracht und getötet hätte. Denn Gefängnis würde für Thomas noch viel schlimmer sein als der Tod.
Thomas fuhr zunächst wie der Teufel. Nur weg! Als er aber bemerkte, dass ihm niemand folgte, mäßigte er seinen Fahrstil, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen und wandte sich nach Osten. Allerdings bog er schon bald in einen Feldweg ab, wo er hinter einer Mauer anhielt, denn er wollte nachdenken.
Okay, Thomas, überlegte er, du hast einen fatalen Fehler gemacht, also mach jetzt nicht noch einen. Die Schlinge liegt eigentlich schon so eng um deinen Hals, dass es im Prinzip gar keine Möglichkeit mehr gibt, ihn da wieder raus zu ziehen. Natürlich waren diese Polizisten Handlanger von Ramírez. Aber sie hatten Polizeiuniformen an. Das bedeutet, dass Ramírez eigene Leute bei der Polizei eingeschleust hat. Damit habe ich jetzt nicht nur die Drogenmafia, sondern auch die Polizei am Hals. Das ist ja absolut bezaubernd. Egal wer mich einkassiert, es wird immer mein Verderben sein, denn ich lande früher oder später in den Händen von Miguel Ramírez, meinem Erzfeind. Obendrein wusste der, dass ich in einer persönlichen Angelegenheit hier unten bin. Wahrscheinlich hat er das über meine Sekretärinnen herausgekriegt. Und der Immobilienmakler hat ihm gesagt, in welchem Hotel ich mich befinde. Ein Glück, dass ich Sally und Maggie verboten habe zu erzählen, dass ich mich mit Jeremiah versöhnen will. Und offensichtlich haben sie sich auch an die Anweisung gehalten, weil Miguel das sonst bestimmt in seinem “Liebesbrief” erwähnt hätte. Das bedeutet, dass meine Gegner vielleicht gar nicht wissen, dass ich einen Bruder habe und dass der obendrein noch in Venezuela wohnt. Außerdem hat Ramírez wohl sehr spontan gehandelt, denn er hat mich ja in Zusammenarbeit mit dem Makler gelinkt. Das bedeutet wiederum, dass ich sie auch überrascht haben muss mit meinem Besuch vor Ort. Und damit wissen die wahrscheinlich gar nicht, dass ich sehr brisantes Beweismaterial habe, was ich gegen sie verwenden kann. Hm, wenn Ramírez mich wirklich liquidieren will, kann Philip diese Schweinehunde immer noch rankriegen. Aber ich befürchte, dass Ramírez mich gar nicht töten, sondern mich “interviewen” will. Und auf so ein “Interview” bin ich nicht gerade scharf, denn ich bin mir nicht sicher, wie lange ich durchhalte, wenn er mich foltert. Dann ist das Beweismaterial nichts mehr wert, und obendrein wird er sich meine Verbündeten in den Staaten vorknöpfen. Oh weh, das ist ja im Prinzip noch schlimmer, als wenn dieser Drecksack mich nur liquidieren wollen würde. Tja, falls er mich doch stellt, heißt der einzige Ausweg für mich Selbstmord. Denn nur so kann ich ihn dann doch noch zur Strecke bringen und das Leben der anderen Beteiligten retten. Na klasse, so hatte ich mir diese Aktion eigentlich nicht vorgestellt. Okay, und jetzt überleg, alter Junge, was du als Nächstes machst.
Thomas legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.
Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte er, was für ein Elend. Okay, Gott, ich mach mit dir einen Deal. Wenn du mich hier lebend wieder herausholst, ohne dass Ramírez mich gekriegt hat, dann schenk ich Sally und Maggie eine Kaffeemaschine und das nötige Pulver, so dass sie nie wieder selbst welches kaufen müssen. Und sie dürfen auch so viel Kaffee auf der Arbeit trinken, wie sie wollen.
Noch während er das dachte, fand Thomas diese Idee total lächerlich. Das hörte sich ja fast so an wie bei einem Prozess im Gericht, wo man, um überhaupt zu einer Lösung zu kommen, Zugeständnisse machte.
Als wenn man mit Gott pokern könnte, dachte Thomas verärgert über sich selbst, das ist ja wohl das Letzte (Doch, man kann. (Die Bibel, Altes Testament, abgekürzt AT, Buch Richter, Kap. 10, Vers 15). Allerdings sollte man es nicht so weit kommen lassen, weil man dann meistens ziemlich in der Patsche sitzt, wenn diese Methode die einzige Rettung ist.). Oh Mann, bin ich mit den Nerven runter. Und eigentlich wollte ich heute Nachmittag Jeremiah besuchen.
Aber dann durchzuckte es ihn wie ein Blitz.
Jeremiah besuchen, dachte Thomas, und sein Gesicht hellte sich auf, das ist wahrscheinlich die Rettung, wenn es denn überhaupt eine gibt. Ich muss ihn ja nicht einweihen. Der kleine Bruder soll mich einfach nur außer Landes bringen. Wie schön, dass er einen Bootsverleih hat. Das ist doch eine geniale Chance für ihn, mir mal was Gutes zu tun. Dafür werde ich ihm bestimmt auf ewig dankbar sein. Denn wenn ich zurück in die Staaten kommen könnte, wird es schon wesentlich einfacher werden zu beweisen, dass ich gelinkt wurde.
Thomas war sehr froh, dass er sich kurz vor dem Mittagessen noch angeschaut hatte, wie er fahren musste, um nach San Juan de las Galdonas zu kommen. Zum Glück war er schon fast auf dem Weg dorthin, denn der Ort lag im Osten von Venezuela.
Als er an Carúpano vorbei war und Richtung Rio Caribe fuhr, bemerkte er, dass die Polizei damit begann, Fahrzeuge zu kontrollieren. Einmal konnte er gerade eben noch einen solchen Kontrollpunkt umgehen, aber er wusste, dass er beim nächsten Mal möglicherweise weniger Glück haben würde. Deshalb beschloss er, das Fluchtfahrzeug zu wechseln.
Читать дальше