Außerdem bin ich ja flexibel und suche gerne nach Ersatz. Da gibt es jemanden, der zu genau diesem Zeitpunkt wieder ins Zentrum meiner wankelmütigen Aufmerksamkeit rückt. Ein wunderschönes Mädchen, welches noch ein paar Monate lang siebzehn sein wird und sich gerade von ihrem Freund getrennt hat.
Es ist nicht mehr lange hin bis zur großen, obligatorischen Party. Denn bald steht mein achtzehnter Geburtstag vor der Tür.
Auf dieser unausweichlichen Fete muss ich sie unbedingt auf diese Trennung und auf meine unauslöschlichen Gefühle zu ihr ansprechen. So ist es geplant. Ist doch klar, das bist du, liebes Steffichen.
Die Party an sich war ein voller Erfolg. Alle die ich kennen gelernt habe, versammelten sich in unauflöslichen Klümpchen im Jugendheim meines Heimatdorfes. So etwas wie Stimmung kam absolut nicht auf, und zu allem Überfluss hatte ich die ganze Zeit die bekloppte Idee im Hinterkopf, dich unbedingt nach draußen vor die Türe zu bitten, und dich mit meinen tief verwurzelten, dich betreffenden Gefühlen zu konfrontieren.
Daraus erwuchs sich, wie gehabt, mal wieder ein Desaster. Ich dachte, es freut dich vielleicht zu hören, dass es da jemand gibt, der dich von ganzem Herzen so liebt, wie du bist, der obendrein auch noch dein bester Kumpel ist. Fehlanzeige. Ganz im Gegenteil. Schon bin ich wieder der miese Verräter. In dieser Hinsicht stellt sich langsam Routine ein.
Der Frühling verging, der Sommer mit seiner elenden Hitze näherte sich. Im letzten Drittel des schönsten Jahres meines Lebens mussten wahlweise Janette, Diana I und II, Alexandra (ohne etwas zu wissen, ohne das ich etwas sagte) und trotz allem natürlich du, für die Projektion meiner romantischen Gefühle herhalten.
Noch etwas lernte ich gut und immer intensiver kennen, weil du mich nicht wolltest. Die seelische Nacht. Meine dunkle Seite, die erstmals im fünften Schuljahr mit höllischer Wut aufflammte, und jetzt, da ich noch öfter Teichoskopie betrieb und ernsthaft an einem rachedurstigen Krimi schrieb, zunehmend eine deutlichere Gestalt annahm. Ich machte die zweifelhafte Bekanntschaft von Wut, Bosheit und Sadismus. Der Weg dahin erschien mir ganz logisch. Darf die Liebe nicht existieren, muss sie durch eine gleichwertige Emotion ersetzt werden. Einsamkeit kann das nicht leisten. Nur der Hass ist der Liebe ebenbürtig. Ich begann dich zu hassen, bis aufs Blut. In meinem Krimi malte ich mir Szenen voller Rachsucht und Folter aus und schrieb sie auf. Ich quälte und tötete erfundene Opfer stellvertretend für dich. Ich bestrafte sie für ihren Hochmut und ihre Schmähungen. Hass und Wut rauschten durch meine Adern. Ich giftete vor mich hin. Wenn das die einzige funktionierende Art war, dich aus meinen Gedanken und aus meinem Leben zu tilgen, würde ich sie eben ausüben. Rache. Rache hieß eine jener miesen Ideen, die ich in die kosmische Ursuppe meiner kochend vor sich hin pubertierenden, sich wandelnden und täglich neu formenden Persönlichkeit warf. Da ich nichts lieber tue, als lernen, wachsen und auf Perfektion hinarbeiten, fest an die Notwendigkeit des Gleichgewichts aller Kräfte und der Existenz eines Weltenschöpfers glaube, ist das Endprodukt heute ein anders, als das, worüber ich damals spekulierte. Das höchste Ziel auf Erden ist für mich, Schriftsteller zu werden. Ehe ich dir meinen ersten Krimi vorsetze, sollst du doch wenigstens wissen, warum ich so gerne Krimis schreibe. Die kratzen eben nicht nur an der Oberfläche, nein dabei geht es um Abgründe. Abgründe, auf die jeder, der einmal seine Seele erforschen muss, stoßen wird, ob es ihm gefällt oder nicht. Ich möchte gerne spannende Geschichten aus den verschiedensten Genres erzählen. Allen voran diese. Denn über die ersten, vom Zorn versprengten Seiten, bin ich zur Schriftstellerei gekommen. Die Phantasie hält so vieles für einen bereit. Man darf sie sich nur nicht abgewöhnen. Schlussendlich ist die Idee der Anfang von allem. Die Idee, dich nach meiner Geburtstagsparty aus meinem Leben verbannen zu müssen, um endlich wieder etwas Qualität in mein Dasein zu beringen, war der schwerste Felsbrocken, den ich jemals in die Ursuppe meiner Gefühlswelt fallen ließ. Es bildeten sich nicht bloß Wellen, nicht bloß konzentrische Kreise um ihn. Er brachte das Meer zum Schäumen und Kochen. Niemand kann sich vorstellen, wie befreiend ein Wutanfall ist, wenn man dem brennenden, höllischen Feuer den Weg zur Oberfläche ebnet, wo es seine Macht austobt, um nichts als Wüste, Ödnis, Asche und verbranntes Land zu hinterlassen. Ja, ich meine damit die Seele, die sich durch einen solchen Befreiungsschlag Luft und Raum verschafft, deren tägliches Zitterspiel um Stabilität und Ausgeglichenheit einen Teilsieg erringt, wenn beides, Tag und Nacht existieren darf. Meine Wut blieb sinnlos, um niemandem gefährlich zu werden. Meistens war ich sauer auf mich selbst. Heute, an diesem Tag, da ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, der Grund dafür war die unsterbliche Liebe.
Sie ließ alle anderen Seifenblasen zerplatzen. Luftballons, die eine spitze Nadel treffen. Peng. Wie eine Nadel so gut wie jedes Material durchdringt, drängte sich die Liebe, meine Liebe, immer wieder in mein Leben. Seifenblasen vermögen das nicht zu verhindern.
Das letzte Jahr in Andernach war schön, sehr schön sogar und doch ernüchternd, im Rückblick. In Sachen Liebe und aus der diesbezüglichen Erfahrung habe ich nichts gelernt. Viel gesehen und beobachtet, Daten gesammelt und analysiert, die Ergebnisse den bereits bekannten Fakten zugeordnet. Wissensblöcke neu sortiert. In gewisser Weise die Position als Außenseiter gefestigt. Auch wenn ich zu einer Clique gehörte, im Zentrum befand ich mich nie. Hatte kein Problem damit. Zuschauen, aus und verwerten fand ich hochgradig interessant. Mögliche Anzeichen meines Schriftstellerdaseins, die sich manifestierten und auf der nächsten Schule noch deutlicher in Erscheinung treten sollten.
Die Suche nach Ersatz kann mühsam sein. Wenn man jung ist, weiß man nicht genau, wonach man sucht und ahnt nicht, dass die Suche vielleicht das falsche Ziel hat. Ersatz ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Ersatz ist Wunschdenken und Hirngespinst. Die Suche nach Ersatz resultiert aus der Unfähigkeit loszulassen. Ich habe mich davor gefürchtet, dich loszulassen. Um dich drehten sich neunzig Prozent der in mir wach gebliebenen Erinnerungen an meine Vergangenheit. Ein Mensch ohne Vergangenheit ist ein Mensch ohne Zukunft. Ich weiß nicht woher der Satz kommt, aber ich weiß, es ist so. Das in der Vergangenheit Erlebte macht uns überhaupt erst lernfähig. Lernfähigkeit ist für mich die menschlichste aller Eigenschaften. Aufhören zu lernen, bedeutet Selbstaufgabe. Mich selbst aufgeben kann ich nicht, denn ich habe womöglich eine Aufgabe in dieser Welt. Sie mag global gesehen nichtig, unbedeutend und klein sein, aber sie will erfüllt sein. Bis das mein Schöpfer sagt: „Es reicht.“ Wer bin ich kleines Licht, in diesen Prozess einzugreifen? Aufgeben? Nein! Ich habe schon an der Schwelle gestanden. Bin nie gesprungen. Wer verletzt wurde weiß, dass er überleben kann. Möglichkeiten sich das Überleben schmackhaft zu machen gibt es viele. Man muss sie nur sehen und als Chance beim Schopfe packen. Bevor ich nicht jede einzelne erwogen und ausprobiert habe und darüber hinaus, ist für mich noch lange nicht Schluss. Wenn das heißt kämpfen, dann nehme ich diesen Kampf auf – sofern nötig auch gegen mich und meinen inneren Schweinehund. Andere mögen an ihrem Liebeskummer zerbrechen. Mich hat er irgendwie stärker gemacht. Eine gute Freundin hat mich gelehrt, damit klarzukommen. Sie heißt Einsamkeit und ist viel mehr, als dieses augenscheinlich niederschmetternde Wort. Ich dachte emotionale Ödnis und Wüste seien schlimm. Man geht in die Wüste, um sich selbst zu finden. Durch sie habe ich erfahren, dass ich die schönste Wüste und Einöde in mir habe. Mein Herz ist eine endlos weite, steinige Landschaft. Deshalb brauche ich nicht durstig zu sein und nicht zu verdursten. Ich trinke den spärlichen Regen, der in der Wüste fällt. In der Einsamkeit meiner eigenen Wüste kann ich uneingeschränkt ganz ich selbst sein. Ohne jemandem gefallen zu müssen. Keine Wüste auf unserer Erde ist schöner als meine Einsamkeit.
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