Vom Rest des Abends ist nichts übrig in meinen grauen Zellen. Auch weiß ich nicht, ob es wahr ist. Sicher ist nur, ich traute mich zwei Jahre lang nicht, dich anzurufen. Als ich endlich wieder etwas Mut zusammenkratzte, in den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1992 und du meine Entschuldigung annahmst, war die Welt wieder in Ordnung. Du warst eine bildschöne junge Frau, ich ein kleiner verträumter Junge, der verzweifelt und unbedingt, ja bedingungslos an die Unsterblichkeit der Liebe glaubte.
Wir erreichten also einen Status Quo. Waffenstillstand. Du hattest obendrein deinen Freund, ich freundete mich mit der kleinen Schwester von Emotion Nummer eins an. Einsamkeit . Ma sweet solitude . Sie war treu und eine hinreißend scharfe Bettgefährtin. Das bemerkte ich recht schnell, obwohl ich erst Jahre später zum ersten Mal den Song „Ma solitude“ von Georges Moustaki hörte. Meine Französischlehrerin machte mich mit dieser fabelhaften, sensiblen musikalischen Betrachtung des Themas Einsamkeit bekannt. Ihr Unterricht in unserer gemischten Klasse artete zwar in eine Übervorteilung der Fortgeschrittenen aus, aber für die Bekanntschaft mit diesem Lied, werde ich ihr allzeit dankbar sein.
Status Quo. Ich wechselte von der Hauptschule auf die Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung, lernte neue Leute kennen. Zwischendurch traf ich dich immer mal wieder. Jedes Mal wurde das Feuer neu angefacht. Jedes Mal ein bisschen mehr geschürt. Liebe. Ich versank in deinen Augen. Nachdem wir uns voneinander verabschiedeten, hasste ich dich noch viel leidenschaftlicher. Feuer und Eis. So sehr ich auch versuchte zu leugnen, so sehr ich mich bemühte, deinen Platz in meinem Herzen an eine andere zu verschenken und deinen Palast einzureißen, ganz wie du es wolltest, du warst der zündende Funke, der mein Leben zu etwas Besonderem machte.
Egal welches Mädchen ich umwarb, immer bekam ich jenes Wort mit den bleiernen Flügeln zu hören: Bester Kumpel . Vielleicht war ich das. Der einzige viel zu zärtliche Macho des Planeten. Nur ein bester Kumpel. Das war es, was alle Mädels in mir sahen. Ein ganzes Universum an weitergehenden Möglichkeiten hätte ich zu bieten gehabt. Nehmen wir zum Beispiel mal Anja. Sie saß eine Bank hinter mir in der Klasse und sah einfach hinreißend aus. Sie trug ihre dunklen Haare schulterlang, hatte blaue Augen, war schlank und ungefähr so groß wie ich. Wir verstanden uns blendend vom ersten Tag an. Vorausschauender Weise erahnte oder befürchtet ich, sie würde einen Freund haben und natürlich lag ich damit richtig.
Kein Problem, sagte ich mir, den wirst du überleben. Und so geschah es. Ich überlebte ihn als… na du weißt schon.
Ich jonglierte nun also mit mindestens zwei heißen Eisen auf einmal. Planlos und ohne Strategie. Wen von euch beiden sollte ich mehr lieben? Welcher den Vorzug geben, vor der anderen? Wer war so wichtig, dass eine maximale Investition an Gefühl vernünftig sein mochte? Ich glaubte ja nicht einmal an mich selbst. Wie soll man sich da Chancen ausrechnen? Einerseits gab es hier und jetzt Anja, neu und außerordentlich interessant.
Andererseits wurde ich immer wieder von dir gefesselt. Ich habe mich gerne fesseln lassen, sooft wir uns trafen. Immer spielte ich brav den besten Kumpel, wie du es wolltest. Habe schmerzhaft deine Umarmungen zur Begrüßung und zum Abschied genossen. Wusste nicht, ob ich sie genießen darf. Oh Herz, wie zerriss es mich jedesmal, deine Brüste an meiner hemdsverhüllten, haarigen Bärenbrust zu spüren. Wusste nicht ob ich deine Nähe genießen darf, dich zu fühlen, die zarte Schönheit deiner Seele, die mich immer schon beeindruckt hat. Also tat ich es mit gemischten, zwiespältigen Gefühlen, oftmals linkisch und verkrampft, angespannt bis zum Bersten, musste ich meine wahren Empfindungen doch vor dir verbergen. Ich durfte ja nur bester Kumpel sein. Dies war dein Spiel und mein Schlachtfeld. Aber du kanntest und kennst mich viel zu gut, als dass dir meine innerliche Erstarrung, mein Kampf nicht aufgefallen wäre. Wir beide stellten ein reichlich seltsames Gespann dar. In unserer rein freundschaftlichen Zuneigung durch so gut wie nichts zu erschüttern. Wir waren Seelenverwandte, wie ein einziger Gedanke, Blutsbrüder, jeder auf seiner Seite des Grand Canyon. Ich erinnere mich daran, wie es war, neben dir auf meiner oder deiner Couch zu sitzen, so nahe, dass ich deine Wärme fast spüren konnte. Du bist ein Stern. Der schönste Stern den ich kannte. Nur willst du das leider nicht sehen. Und deshalb bist du ein Traum. Du wirst dich niemals wirklich finden, wenn du nicht endlich jemandem glaubst, der an dich glaubt. Nein, keine Angst, ich fange nicht schon wieder an zu predigen. Das habe ich lange genug und oft genug versucht. Vielmehr möchte ich dir erzählen, wie meine Welt mit dir aussah. Ich wage nicht zu spekulieren, wie sie ohne dich aussehen wird. Sie wird leerer sein, sie wird schrumpfen, kleiner werden und blasser. Diese Tatsachen sich lassen schon erkennen. Ich weiß jedoch, es muss unbedingt sein. Lediglich dein Kumpel zu sein, schaffe ich einfach nicht. Dafür entsprichst du zu sehr meinen Vorstellungen von Schönheit. Ich weiß, du willst das nicht hören. Zum einen wirst du dann wieder argumentieren, Schönheit liege nur im Auge des Betrachters. Zweitens sage ich dir aber, kommt für mich der wichtigste Faktor im Begriff Schönheit aus Herz und Verstand. Drittens bin ich durchaus dazu fähig, ganz einfach nur still und leise zu bewundern und das konnte bisher keiner von den Knilchen, die du näher als nahe an dich herangelassen hast. Diese Möchtegern Machos sollen erst einmal lernen, wie man als Mann zum Verwöhnaroma wird. Keine Verwöhnaroma-Strategien, kein richtiger Macho . So ist das eben. Nun gab es da neuerdings Anja, die bereits lange Zeit einen festen Freund hatte. Jeder Mensch weiß, je länger so eine Beziehung dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, das es zu einem Riesenkrach kommt, der sich in einen Knacks und einen nicht wieder zu kittenden Bruch verwandelt. Hier lagen die Trümpfe allesamt in meiner Hand. Um den Einsturz eines Kartenhauses mitzuerleben, braucht man nichts als Zeit. Die stand mir zur Verfügung. Alle Zeit der Welt sogar und überall auf dieser Welt gab es nette, gutaussehende Mädchen in meinem Alter. Es gestaltete die Wartezeit wesentlich angenehmer, konnte ich doch meine Sensoren in alle Richtungen auf mögliche Angriffsziele schalten.
Читать дальше