Eine junge Frau, die die Erinnerung an dich unwichtig macht und sie möglicherweise sogar auslöscht. Eine Frau, ein Mädchen, das mich vergessend macht, so vergessend, dass ich nicht einmal mehr von deiner Existenz etwas weiß. Eine ebenbürtige Konkurrenz. Irgendwie scheint das wichtig zu sein, denn du willst es ja auch so. Du freust dich unheimlich, wenn ich jemanden finde, der meinen Sehsüchten entspricht. Du freust dich fast zu sehr. So sehr, dass ich immer misstrauisch werde, wenn ich andeute, dass ich möglicherweise Ersatz für dich gefunden habe.
Oh ja, Ersatz. Ich habe so oft Ersatz für dich gesucht. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Ab einem unbestimmten, weil in der Erinnerung, verschüttet gegangenen Zeitpunkt, war ich fest davon überzeugt, ich würde mich umorientieren. Die bittere, mir heute bekannte Wahrheit lautet: Ich suchte keine Neue, ich suchte Ersatz. Das erste Mal, dass ich mich daran erinnere, war es Silke.
Unsere Lebensläufe trennten sich gerade endgültig , du warst im zehnten Schuljahr, ich musste mich auf der neuen Schule zurechtfinden. Damit habe ich zwar Schwierigkeiten, aber es reizt mich auch, etwas Neues kennen zu lernen. Ich bin versessen auf das Neue. Dazu gehört auch Silke. Ihr langes, wasserstoffblondes Haar ging ihr bis zur Hüfte, sie war unbedeutend vollschlanker, als der von mir angenommene Optimalzustand, aber sie war da und durch ihre stets etwas melancholische Stimmung für einen NeunzigProzentSanguiniker äußerst faszinierend. Ich habe sie sogar mal privat getroffen. Sie suchte allerdings leider nur eine Schulter zum Anlehnen und ausheulen, die ich ihr nicht bieten konnte. Als ich das aus sekundärer Quelle erfuhr verflog die Begeisterung, denn für so etwas ist Zeit viel zu kostbar. Ich tauge nicht als Tränenschwamm für Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als größtenteils grundlos Trübsal zu blasen. Dazu gebe ich mich nicht her. Ich bin Entdecker, neugierig aufs Leben.
Ausweg, beziehungsweise Flucht Nummer zwei, vor der ganz großen Liebe hieß Verena. Irrsinnigerweise war ich ihr schon auf der Abschlussfahrt der Hauptschule begegnet und damals tierisch in ihre Cousine Anke verknallt. Als ich Verena nun in Andernach wieder sah, änderte sich das schlagartig. Leider war sie jedoch noch schüchterner als ich. Jemand der sowieso schon schüchtern ist, wird nicht gerne zurückgewiesen. Also gab ich nach einer gescheiterten Einladung zu einem Eisbecher an einem heißen Sommertag des Jahres 1995 sang und klanglos auf. Ich überlegte, ob ich mir das Gefühl, verliebt zu sein, nicht besser ganz abgewöhnen sollte. Ich versuchte es, aber es funktionierte nicht wirklich, denn kaum das ich Verena stehen ließ, entdeckte ich Diana aus meiner Parallelklasse.
Diana war groß, schlank, hatte kurze blonde Haare, einen festen Freund, manchmal zierten rote Pickel ihr umwerfend süßes Gesicht. Man konnte sich wunderbar mir ihr unterhalten, morgens vor Unterrichtsbeginn oder in den Pausen, riskierte dabei jedoch, dass man sich der eigenen Klasse entfremdete, denn Leute aus Parallelklassen können sich üblicherweise nicht riechen. Mir war so etwas Kleinkariertes eigentlich immer egal, aber ich bin ja auch ein Ketzer.
Diana erzählte oft vom Zoff mit ihrem Freund, was mir als geduldig Wartendem Grund zu irrationaler Hoffnung gab. Leider schien sie nicht von ihm loszukommen, darum gab ich halt das Hoffen auf. Ich wandte mich wieder meiner eigenen Klasse und meiner Clique zu, einen guten Freundeskreis wie diesen durfte man nicht vernachlässigen. Eigentlich war mein Bedarf an Schule gedeckt. Dafür bekam ich dann auch die übliche Quittung. Doch das Jahr, das ich in der Berufsfachschule in Andernach wiederholte, wurde eines der schönsten in meinem bisherigen Leben. Der Gedanke an dieses Jahr ist die einzige wirkliche Sentimentalität, die ich mir gönne. Zum ersten Mal gehörte ich einer Clique an, mit den unterschiedlichsten Charakteren, die trotzdem alle gut miteinander auskamen. Leute, die Partys zusammen feierten, wie ich sie bis zu diesem Zeitpunkt nie erlebt hatte. Denn hier gehörte ich mit dazu. Das zu wissen, bedeutet ungeheures Glück für einen notorischen Außenseiter. Vielleicht passten wir so gut zusammen, weil wir alle ein bisschen Außenseiter waren. Oder weil unsere Klasse in zwei Cliquen gespalten war. Ein Mädchen aus diesem Freundeskreis habe ich schon einmal erwähnt: Anja.
Ich verlor mich im Glanz ihrer Augen. Ich war hingerissen von ihrer weiblichen, aber nicht zu betont weiblichen Figur. Ihr Haar, nicht blond sondern dunkelblond, fast brünett, hatte traumhafte Schulterlänge. Es umrahmte seidig ihr Gesicht, ihre ausgeprägten, indianisch anmutenden Wangenknochen, die sie manchmal wie Winnetous Schwester aussehen ließen. Ich war, obwohl ich es ganz bestimmt nicht wollte, mal wieder verknallt.
Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, dass irgendwann einmal selbst die harmonischste Beziehung das zeitliche segnet. Bei Anja wusste ich ganz genau, sie würde ihren Freund früher oder später abschießen. Als der Zeitpunkt kam, das Schulhalbjahr neigte sich schon den großen Ferien entgegen, schrieb ich ihr eine nahezu unwiderstehliche Einladung, die anstehenden Sommerferien mit mir zu verbringen.
Dass aus mir irgendwann ein Schriftsteller werden sollte, hatte ich schon lange zu meinem Hauptziel erklärt. Vielleicht traf ich deshalb die richtigen Töne. Die Einladung kam so gut an, das ich mir sagte es gäbe einen Grund zum Träumen, denn Anja sagte zu. Also stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, morgens vor Sonnenaufgang neben ihr aufzuwachen, sie sanft mit Streicheleinheiten zu wecken, und ihr dann das Frühstück, mit allem was Genuss bedeutet, Kaffee, Orangensaft, Brötchen, Marmelade, Käse, Wurst und Schinken (Ich bin sehr fürs Herzhafte zu haben.), im Bett zu servieren. Genuss pur halt eben, bevor ich ihr die höchste und vollendetste Form von Verwöhnaroma, das ich für sie sein wollte, zuteil werden ließ: Stimulanz und Befriedigung. Let’s make love, suggar.
Ja, es waren phantastische Ideen. So prickelnd wie das Leben sein sollte. Ganz sicher hätte dieser Urlaub sie endgültig von ihrem Exfreund losgerissen. Losgerissen und fortgeweht, damit ich sie auffing. Wie jede andere Seifenblase, die ich mir im Leben zurecht geträumt habe zerplatzte auch diese. Sie explodierte schillernd bunt an der Ecke eines Briefumschlages, der eine schriftliche Absage enthielt. In diesem Brief entschuldigte sie sich hundertmal bei mir dafür, das sie zu ihrem Exfreund zurückgefunden habe, erklärte, ihr sei dieser Neuanfang wichtig und dass sie es sehr bedauere, mich, der ich zuerst da gewesen sei, zurückzuweisen. Ich fegte die Trümmer meiner Träume zusammen und erlebte einen recht eindringlichen Tagtraum, in dem ich sie genussvoll erwürgte. Keine Panik, sie lebt noch, ist mittlerweile verheiratet und steht im Telefonbuch. Ich träume halt zu gerne. Am Rande registrierte ich, wie sie mit ihrem Exfreund zusammenzog, sich ein halbes Jahr später endgültig von ihm trennte und einen neuen Partner fand. Unterdessen war ich mir sicher, dass ich sie viel lieber als Freundin im für mich üblichen Sinne an meiner Seite habe. Ich schätze sie viel zu sehr, um lange nachtragend zu sein.
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