Diese Sumpfwiese sollte Jahre später noch einmal von Bedeutung für mich sein. Die erste Übung, an der ich teilnahm, war erfolgreich verlaufen. Ich hatte eine Menge Erfahrungen gesammelt, konnte aber auch mein Wissen und Können zweckmäßig anwenden.
Wieder im Ausbildungsregiment fragte ich den Kompaniechef, ob an der Offiziersschule noch ein Platz für mich frei wäre. Schon zwei Tage später fuhr ein alter klappriger H 6 Bus nach Plauen. In diesem saßen die Werbungserfolge des Unteroffiziers - Ausbildungsregiments (UAR). Begleitet wurden wir vom gestrengen Oberstleutnant Stark. Er war ein Stellvertreter unseres Regimentskommandeurs. Groß und kraftvoll war der Offizier, mit dröhnender Stimme. Er zog beim Laufen ein Bein nach, weil er bei einer Lehrvorführung den Soldaten beweisen wollte, dass man noch schneller den Postenturm verlassen könne. Schließlich war er der Schnellste. Den Flug aus sieben Meter Höhe hat nicht einmal sein robuster Körper ausgehalten. Die Kommissionierung, so nannte man die Aufnahmeprüfung, war ein militärischer Mehrkampf. 3000-Meter-Lauf, Klimmziehen, Gewichtheben u.a.m. waren die Schwerpunkte. Dazu eine Mathematikklausur, ein Aufsatz zu einem streng politischen Thema und ein wertendes Gespräch füllten die zwei Tage aus.
Ich wurde ohne Probleme kommissioniert, also aufgenommen, obwohl ich mir einige Leistungsreserven gehalten hatte. So konnte ich dann gleich zu Studienbeginn Leistungssteigerungen nachweisen, was einen guten Eindruck machen sollte.
Damals, vor Monaten, als wir zu einer Einheit formiert worden waren, hatte ich in unserem Haufen kein bekanntes Gesicht gesehen. Selbst von denen, die in meiner Heimatstadt in den Militärzug gestiegen waren, war niemand dabei.
Die Männer, aus denen Kameraden werden sollten, kamen aus allen Teilen der Republik. Aus Sangerhausen, Erfurt, Rotta, Dresden, Dippoldiswalde, Rostock, Bautzen und anderen bekannten und unbekannten Städten und Gemeinden waren sie einberufen worden. Der Spieß war aus Stolzenhain und sein Schreiber kam aus Elster, einer Kleinstadt an der Elbe. Die Masse hatten acht bis maximal zehn Jahre die Schule besucht. Ich war mit meinem Abitur eine Ausnahme. „Ist noch Suppe da?“ hörte man oft auf unseren Zimmern im feinsten Thüringer Dialekt. Das war das Schlagwort des Soldaten Lehmann. Soldat Lehmann, aus Erfurt, war ein pfiffiger Bursche. Mit allen möglichen Tricks vermochte er sich ins rechte Licht zu rücken. Mit flotten Sprüchen versuchte er die Kameraden zu provozieren und sie zu seinem Vorteil gegeneinander auszuspielen. Wurde sein Tun erkannt, flüchtete er sich in lapidare Ausreden. Sein Diensteifer, Ehrgeiz und sein Geltungsdrang machten ihn nicht sehr beliebt. Seine Kameradschaft ließ einige Wünsche offen. Die Tagesprobleme erfasste er sehr schnell, aber perspektivisch denken konnte er nicht.
Um als Ausbilder in der Einheit bleiben zu können, verpflichtete er sich als Berufssoldat. Er bildete Unteroffiziere aus, ohne selbst an der Grenze gestanden zu haben. So konnte er zwar Wissen vermitteln, aber keine Erfahrungen weitergeben, die ein Grenzunteroffizier dringend nötig hatte. In der Etappe fühlte er sich so wohl, dass er sich zur Offiziersschule meldete. Als ich Leutnant wurde, begann er diese Ausbildung. Dann trennten sich unsere Wege für immer.
Das Gegenteil war der Soldat Liebschnur aus Dippoldiswalde. Ein Kerl wie ein Baum und ein echter Dickschädel aus dem Erzgebirge. Vom Beruf Schmied, wie unser Kompaniechef, sagte er stets was er dachte. Aufgrund seiner überdurchschnittlichen Kräfte versuchte er sich durchzusetzen. Nicht selten kam es vor, dass er sich einen der Kameraden "vorknöpfte", dabei war sein Jähzorn einsame Spitze. Wenn ihn die Tobsucht packte, ging man ihm besser aus den Weg. Als er sich, von der Vernunft verlassen und in Verkennung der Tatsachen mit mir anlegte, fand er seinen Meister. Seine Drohgebärden missachtend, war ich bemüht, den Konflikt zu entschärfen und allen Streit zu beenden. Plötzlich holte er zum Schlag aus, doch der erste Treffer kam von mir und er landete in einem Papierkorb. Dieser stand in meinem Außenrevier und er füllte ihn ständig mit seinem Müll, wenn er gemäß der Weisungen des Hauptfeldwebels leer zu sein hatte. Seine Verblüffung darüber, dass es jemand wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, war so groß, dass er zu keiner Gegenwehr fähig war. Diese Lektion hatte er begriffen und niemand im Kollektiv fürchtete künftig seine Ausbrüche. Ob und wie er später sein Gruppenkollektiv führte ist mir nicht bekannt.
Dieter Edel war ein guter Genosse. Er stammte aus Sangerhausen und sprach den heimatlichen Dialekt mit singender Stimme. Seine Hilfsbereitschaft war vorbildlich. Er war verlobt, hatte keinen Drang in den Ausgang zu gehen und kein Gespräch verging, ohne das er von seiner Verlobten sprach. Jeder Genosse unserer Gruppe musste sich ihr Foto ansehen und ihm bestätigen, dass er die hübscheste Frau der Welt hatte. Seine politischen Ansichten vertrat er mit einfachen, aber überzeugenden Argumenten. Er war ein unauffälliger, treuer Kamerad. Er war mein Posten, als wir gemeinsam zu unserem ersten Grenzdienst eingesetzt waren. Man schrieb den 24. Dezember 1966. Von 22 - 06 Uhr sicherten wir den Postenbereich in der Dianastraße in Potsdam-Babelsberg. Eine kalte, klare Winternacht ließ uns vor Kälte zittern. Hinter den Fensterscheiben der Villen die Lichter der Weihnachtsbäume, wer dachte da nicht an die Liebste daheim?
Als uns eine freundliche Frau, aus dem Haus neben unserem Postenpunkt, eine Thermoskanne mit starken Kaffee und zwei wunderbare Apfelsinen anbot, konnten wir nicht widerstehen - und schwiegen wie ein Grab. Im ersten Dienst ein besonderes Vorkommnis hätte uns niemand verziehen und davon gestorben sind wir auch nicht.
Als gegen Mitternacht der Signalzaun auslöste, heulte die Sirene und die Scheinwerfer leuchteten auf. Alle denkbaren Handlungsvarianten fielen mir blitzartig ein. Für eine zweckmäßige Entscheidung hatte ich nur wenige Sekunden Zeit. Die weihnachtliche Stimmung war plötzlich dahin, denn das Herz war in die Hose gerutscht. Vielleicht ein Grenzdurchbruch! Wie konnte das nur passieren? Wir hatten nichts bemerkt. Weit und breit war kein Grenzverletzer zu sehen. Dann eine vorsichtige Bewegung am untersten Draht des Signalzaunes. Da sahen wir den Übeltäter. So ganz in Schwarz, den Schwanz steil in die Luft gestreckt und leuchtenden Augen. Der Täter war eine Katze, für die es keine Grenzen gab. Ob es eine Ost- oder Westkatze war, konnte nicht ermittelt werden. Mit weichem Knie machte ich Meldung. Wann, wo, wer, wie, was, womit und mein Entschluss. Die ruhige Stimme des Kommandeurs des Sicherungsabschnittes zu hören, stärkte die angespannten Nerven. „Bestätigt“, sagte er und weiter „ich schicke euch die Kontrollstreife“. Da hörten wir schon das Motorengeräusch der zuverlässigen MZ. Die Kontrollstreife bestätigte meine Meldung und der Dienst ging weiter. Nichts war mehr so, wie vor der Auslösung des Grenzsignalzaunes. Konzentriert streiften unsere Blicke durch den befohlenen Beobachtungssektor. Schweigen. Jeder sehnte das Dienstende herbei. Wird dann der Kontrollstreifen spurenfrei sein? Er war es! Erleichterung, als die Sicherheitskontrolle unserer Waffen erfolgte. „Waffe entladen, Patronenlager frei“, meldeten wir mit fester Stimme und schnell, wie niemals zuvor, saßen wir auf dem LKW, der bei den Grenzern "Kantenbus" genannt wurde. Zum Frühstück gab es Kuchen und Bohnenkaffee. Das war das sicherste Zeichen dafür, dass es Sonntag oder Feiertag war. Eine erlebnisreiche (Weih-)Nacht lag hinter uns. Wir hatten die rückwärtige Begrenzung des Handlungsraumes gesichert, der damals nur aus einem 1,8 Meter hohen Maschendraht bestand.
Ein sehr zurückhaltender Genosse war Fred Beere. Stets ein Lächeln auf den Lippen mischte er sich kaum in das allgemeine Soldatengeschwätz ein. Er kam nur dann aus sich heraus, wenn sich das Gespräch um Motoren, Autos oder Motorräder drehte. In der Nähe von Zschopau aufgewachsen, im MZ-Werk gelernt, kannte er alle Typen der DDR-Motorräder. Er hatte Bekannte in der Forschungs- und Rennabteilung des Werkes. Die Namen, auch derer, die bei Rennen für MZ starteten, waren ihm geläufig. Sein technisches Wissen und Können waren beispielhaft. Höchstens 1,68 m groß, hatte er die Idealfigur für einen Rennfahrer. Er war ein guter Soldat, flink und sehr geschickt im Umgang mit der Bewaffnung und Ausrüstung. Als ich 1970, im letzten Praktikum als Offiziersschüler, in Berlin weilte, traf ich ihn in der Karl-Marx-Allee. Die Freude war groß über das Wiedersehen. Der Genosse Unterleutnant, war nett und freundlich wie immer. Inzwischen war er verheiratet, hatte ein Kind und wohnte am Rande der Hauptstadt. Doch wo er diente, wollte er nicht sagen, was mich enttäuschte.
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