Das Fernsehen brachte seine Aufnahmen in der Sendung "IM BLICKPUNKT" unter. So waren die Brigade und Teile der Waggonfabrik für zehn Minuten auf Sender.
Unsere Heimatstadt führte in dieser Zeit einmal im Jahr einen "Ball der Wehrpflichtigen" durch. Mit Musik, Tanz und festlicher Rede wurden die Söhne der Stadt zum Ehrendienst in die Streitkräfte verabschiedet.
Man erschien in Familie, mit Braut oder Freundin. Einige Damen und Herren von Funk, Fernsehen und Presse waren auch eingeladen worden. Etwa 600 Gäste waren erschienen. Für Überraschungen war gesorgt.
Mutter bekam einen schönen Blumenstrauß von Gerry Wolf, einem bekannten Schauspieler, überreicht.

Der Blumenstrauß vom Volksschauspieler
Mit Renatchens Hilfe überstand ich das Interview mit dem Sendeteam vom "Jugendradio DT 64" und nahm, äußerlich gelassen, eine Auszeichnung als Jungaktivist auf der Bühne entgegen. Bis Mitternacht dauerte die ausgelassene Feier.
Meine Eltern, die bisher unseren Entschluss skeptisch aufgenommen hatten, schienen besänftigt und waren stolz, als auch die Heimatzeitungen von dem Ereignis berichteten und Fotos veröffentlichten. Renates Eltern sahen alles positiver, besonders ihr Vater. Robert, mein väterlicher Freund, hatte unseren Entschluss von Beginn an mitgetragen und uns unterstützt. So blieben uns nur noch Stunden bis zur ersten Trennung für unbestimmte Zeit. Würden wir es aushalten können? Hatten wir alles bedacht? Was ging uns alles durch den Kopf?
Um gute Lernergebnisse zu erreichen, haben wir viel gelesen. Ob Marx oder Engels, Heine oder Goethe, Brecht oder Pieck, besonders interessierte uns die deutsche Geschichte und die Taten unserer Vorfahren entsetzten uns. Die Grausamkeiten des Deutschen Faschismus und deren Duldung, durch die Masse der Menschen jener Zeit, führten zu der Erkenntnis, dass der Sozialismus die beste Alternative ist, um im Frieden sinnvoll zu leben. Fremdes Leid ließ uns nicht kalt.
Gott sie Dank wurden wir nach dem grausigen Krieg geboren, dessen entsetzliche Spuren noch nicht überall getilgt waren und es gab auf der Welt immer noch keinen Frieden. Sicher, die Kriegsherde waren weit entfernt, schrecklicher denn je und konnten uns nicht treffen. Die Ursächlichkeit für diese Kriege, das internationale Kapital mit seinen Helfern und Knechten, hatten wir im eigenen Land abgeschafft aber leider noch in engster Nachbarschaft; nur getrennt durch Zaun und Mauer (damals antifaschistischer Schutzwall genannt). In Vietnam, auch ein geteiltes Land mit zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen, liefen Männer und Frauen, vor allem unschuldige Kinder um das nackte Leben. Sie wurden gejagt von den besten Soldaten der US Army, der modernsten und stärksten Armee der (westlichen) Welt. Außer Atomwaffen hatten sie alle Mittel der Kriegsmaschinerie angewandt, um den sozialistischen Teil Vietnams dem Erdboden gleich zu machen. Unvergänglichen Ruhm erlangte in diesem Kampf Ho-Chi-Mien, der sein Volk in diesen Kampf führte. Mc. Namara, der seitens der USA die Kriegshandlungen führte, ist heute nicht einmal ein Komma im Buch der jüngeren Geschichte der Menschheit. (Vietnamkrieg: 1964-68, 1972-75).
In Afrika befreiten sich Land für Land von der Jahrhunderte dauernden Herrschaft der Kolonialherren. Im DFF erzählte der Deutsche Müller, in Fachkreisen Kongo-Müller genannt, wie man für einen üppigen Sold Menschen quält und tötet, wie auf einer Safari. Im gelobten Land durften die Schwarzen, zu den "Americans best" gehörend, zwar in den Krieg ziehen, in ihrer Heimat aber wurden sie ausgegrenzt und verfolgt. Im Nahen Osten raubten die überlebenden der vom deutschen Faschismus gepeinigten und in großen Teilen vernichteten jüdischen Menschen, von ihrer Führungskaste verführt, als Bürger Israels, ihren Nachbarn das Land und durch die Vertreibung deren Existenz und Würde.
Konnten wir da einfach nur zusehen? Könnte sich in Europa eine ähnliche Situation entwickeln?
Unsere Kinder sollten - ich wiederhole mich - in Frieden leben, es besser haben als wir es jemals hatten. Also benötigte auch unser kleines Land ein Schild zum Schutz des Lebens und der materiellen und geistigen Güter seines Volkes. Diese Armee, aus dem Volk geboren, sollte für das Volk, für uns alle, die Härte einer qualifizierten Ausbildung auf sich zu nehmen, um allen Gegnern zu zeigen: Hier sind wir, wagt es nicht unsere Heimat anzugreifen, egal unter welchem Vorwand auch immer. Wir sind bereit und in der Lage unser Land zu schützen. Mit dieser Grundhaltung ging ich am 2. November zum Bahnhof. Der Einberufungsbefehl verlangte: „Sie haben sich am 02.11.1966, 05:00 Uhr am Westausgang des Hauptbahnhofs bei der Bahnhofswache zu melden“. Mein Vater begleitete mich. Vielleicht war es eine Familientradition, den Sohn zum Militärdienst zu verabschieden, denn sonst hatte er kaum Zeit für mich.
Auf dem befohlenen Platz trafen wir auf eine Menge zukünftiger Soldaten, teilweise in bedrückter Stimmung, mit dem Kater kämpfend, aber auch lustig und beschwipst. In den Gesichtern der jungen Männer waren die Gedanken zu lesen. Freude kam keine auf, begann doch für die Masse eine harte Zeit. Immer mehr Jungen stiegen, von Offizieren registriert, in den bereitstehenden Sonderzug, um diesen, viele Stunden später, in der Nähe der künftigen Garnison zu verlassen. Im Zug wurde schnell Bekanntschaft geschlossen. Etliche Flaschen mit "Panzerbrand 66" (billiger Weinbrand für 6,60 MDN) machte die Runde. Die Mehrheit der Anwesenden befeuchtete sich die Kehle, vielleicht, um den Trennungsschmerz zu betäuben oder die eigene Unsicherheit in Selbstbewusstsein zu verwandeln. Ich schaute aus dem Fenster. Anhalts gepflegte Felder und im herbstlichen Dunst stehende Wälder zogen vorüber. Alte und moderne Industrieanlagen, graue, von der chemischen Industrie angegriffene Häuser und gebeugt gehende, dem schmutzigem Novemberwetter trotzende Menschen waren zu sehen. Niemand nahm von uns Notiz. Das Leben im Land ging im gewohnten Rhythmus weiter. Unser Weg führte uns nach Halle, der Bezirkshauptstadt, und dann in Richtung Potsdam.
Nachdem der Fläming und die märkische Heide passiert waren, überquerten wir einen größeren See. Die Brücke war erst kürzlich fertiggestellt worden. Sie war Bestandteil des Ringes um Berlin, der nach Grenzschließung 1961 neu gestaltet worden war. „Potsdam-Hauptbahnhof!“ Die Stimme aus dem Lautsprecher war schrill und verzerrt, fast nicht zu verstehen. Etwa ein Drittel der Männer mussten die Waggons verlassen. Ich war auch dabei. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, einem unbekannten Ziel entgegen. Man sammelte uns auf dem Bahnhofsvorplatz. Der war kahl, weil noch unvollendet und das Wetter ließ ihn noch trostloser erscheinen. Wieder wurde die Anwesenheit festgestellt. Vom unsinnigen Gebrüll einiger Unteroffiziere begleitet, wurden wir zu bereitstehenden Lastkraftwagen (LKW) Typ H3A geführt. Die Dunkelheit brach über die Kolonne herein und die wenigen Straßenlaternen spendeten spärliches Licht. Menschen hasteten durch die Straßen, Busse und Straßenbahnen waren überfüllt. Alles strebte nach Hause, denn es war Feierabend.
Unsere Fahrzeugkolonne bewegte sich zügig in Richtung Michendorf. In langsamer Fahrt ging es bergauf. Auf der linken Seite war ein sowjetischer Soldatenfriedhof. Zu sehen war nur die beleuchtete Stele mit dem roten Stern. Weiter ging es über eine Brücke. Eine schnaufende Dampflok zog einige hell erleuchtete Personenwagen in südliche Richtung. Es roch nach öligem Wasserdampf. Nach dem rechts ein kleines Waldstück mit Kiesgrube passiert war, hielten die LKW vor einer Barackenstadt, im Stil der Wehrmachtsschnellbauten der vierziger Jahre. Auf einem schmutzigen Schotterplatz mussten wir antreten und wurden, an Hand einiger Listen, in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Vor unserer Gruppe stand ein Hüne in Uniform.
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