„Was willst du von mir?“ fragte sie schließlich.
„Ich möchte, dass du mich zum Essen begleitest.“
„Ich glaube nicht, dass ich eine unterhaltsame Begleitung wäre.“
„Das macht nichts. Beim Essen muss man nicht unbedingt reden. Das Wort „essen“ sagt schon die ausschlaggebende Tätigkeit, die dabei im Vordergrund steht.“
„Mike, es ist lieb von dir gemeint, aber ich möchte wirklich nicht weggehen. Kannst du mich bitte einfach hier lassen. Ich bin groß genug und komme alleine zurecht.“
„Nein, kann ich nicht. Du hast 30 Minuten Zeit dich fertig zu machen, dann fahren wir.“
„Und wenn ich nicht will?“
„Dann packe ich dich einfach so wie du jetzt bist ein und nehme dich mit. Die Entscheidung liegt bei dir!“
„Das wirst du nicht wagen.“
„Oh meine Liebe. Ich glaube Laura hat dich noch nicht genug über mich aufgeklärt, zu was ich alles in der Lage bin!“
Ehe sie noch etwas sagen konnte, war er bereits durchs Badezimmer in sein Zimmer verschwunden. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie sah seine entschlossenen Augen und wusste, dass er es ernst meinte. Also raffte sie sich notgedrungen auf und ging ins Badezimmer. Im Spiegel schauten ihr dunkle Augenringe entgegen und kleine Falten, die sich um ihre Augen zogen. Ralf, ihr Mann, fand, dass die Falten nur ein Beweis dafür waren, dass sie den Menschen oft ein Lächeln schenkte. Ein Lächeln hatte sie in letzter Zeit nicht zu verschenken und trotzdem bildeten sich tiefe Furchen in den Falten und ließen sie weit älter wie 28 Jahre aussehen. Es hatte sie weit mehr mitgenommen, als sie es sich eingestehen würde. Da würde auch das beste Makeup aus Lauras Repertoire nicht mehr helfen, um die Spuren zu beseitigen. Wo wollte Mike überhaupt mit ihr hin? Und was sollte sie dazu anziehen? Immerhin stand nur Lauras Kleiderschrank zur Verfügung, dessen Inhalt an ihr immer viel zu knapp saß. Sie fühlte sich mehr als nur unwohl darin und war nicht gerade erpicht darauf von vielen Menschen gesehen zu werden. Sie ging in Lauras Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Unmengen an Kleidern hingen auf Bügeln, lagen in Fächern oder waren in Schubladen verstaut. Isabellas kompletter Kleiderschrank betrug höchstens ein Viertel dessen, was Laura nur in einem ihrer zwei Kleiderschränke verstaut hatte. Sie stöberte etwas und entschied sich dann für Blue Jeans, die wie immer bei ihr viel zu eng saßen und einen einfachen roten Sommerpulli mit V-Ausschnitt, der viel Sicht auf ihr Dekolletee freigab. Um sich mehr heraus zu putzen hatte sie weder die Zeit noch Lust dazu. Sie ging die Treppe hinab und sah Mike schon ungeduldig warten.
„Ich dachte schon, ich muss dich wirklich herunterholen!“
„Wohin gehen wir überhaupt?“ fragte sie ihn sicherheitshalber. Unpassend war sie nicht gekleidet, wenn man ihn als Maßstab nahm. Er trug seine Jeans von vorhin und hatte sein T-Shirt gegen ein Freizeithemd ausgetauscht.
„Lass dich überraschen!“ sagte er geheimnisvoll und komplett ausgewechselt, zu eben noch.
Ohne auf einen weiteren Kommentar zu warten, ging er zur Tür hinaus und öffnete die Beifahrertür eines silbernen BMW Cabrios und ließ Isabella einsteigen. Mike schloss die Tür, umrundete das Fahrzeug und stieg selbst ein. Sekunden später waren sie auch schon unterwegs. Isabella sog die Umgebung in sich auf. In der gestrigen Nacht, als sie ankamen, war es zu dunkel, als dass sie viel sehen hätte können. Jetzt dagegen beobachtete sie die Allee, die sie entlang fuhren und die Häuser, die sich dahinter verbargen. Die Architektur weichte sehr von ihrem gewohnten Bild ab. Sie versuchte im schnellen vorbeifahren die offensichtlichen Unterschiede zu benennen. Am Offensichtlichsten waren die Häuserfronten, die hier oft mit Holz verkleidet wurde, im Gegensatz zum Putz, den jedes Haus in Dorfstetten hatte. Doch am meisten fiel Isabella das Landschaftsbild auf, das fast ausschließlich durch Bauten geprägt war. Die vielen freien Flächen, auf denen auch Weidetiere zu finden waren, sowie auch Wälder und Felder, die ihre Heimat ausmachten, fehlten hier komplett. Es gab hier nichts anderes als aneinandergereihte Häuser und Gebäudekomplexe, die nur das Grün ihrer eigenen, kleinen Gärten hatten, wenn überhaupt. Isabella vermisste jetzt schon ihren Berg und den See, indem sie so oft es ging, schwimmen ging. Sie liebte die Natur über alles, doch konnte sie hier nicht viel davon entdecken. Mike parkte auf einem öffentlichen Parkplatz, der von vielen Autos bereits besetzt war und stieg aus.
„Jetzt lernst du die erste Lektion in Boston. Und zwar die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.“
Skeptisch schaute Isabella ihn an. Sie bereute es immer noch, dass sie sich nicht einfach geweigert hatte, mitzugehen.
„Schau nicht so skeptisch. U-Bahnen gibt es in Deutschland auch. Das wichtigste, was du wissen musst, ist, dass es 5 verschiedene T- Linien gibt. Um sie für alle zu vereinfachen wurden sie nach Farben benannt. Also Red – Line, Orange – Line, Green – Line, Blue – Line und Silver - Line. Dabei gibt es mehrere Knotenpunkte, um zwischen den Linien wechseln zu können. Jede Fahrbahn ist mit der jeweiligen Farbe gekennzeichnet und die Bahnen auch. Verstanden?“
„Ja und was willst du mir jetzt damit sagen? Ich weiß doch noch nicht einmal wo es hingeht!“
„Das erfährst du noch früh genug. Also wir fahren jetzt erst mit der Orange-Line und wechseln dann zur Green-Line. Den gleichen Weg kannst du zurück nehmen, falls du meine Anwesenheit später satt haben solltest.“
„Wenn du schon selbst damit rechnest, dass ich nicht alleine zurückgehen werde, dann spare ich mir wohl besser die Fahrt und gehe gleich wieder zurück!“
„So war das nicht gemeint. Ich wollte dir nur zeigen, wie du in der Stadt alleine klar kommst. Und das ist mit der T-Bahn am leichtesten umzusetzen, wenn man einmal das System verstanden hat.“
„Ich denke nicht, dass Boston zu meiner Lieblingsreiseroute wird, weshalb ich auch nicht die Stadt alleine erkunden muss. Aber wenn es dich beruhigt, werde ich es mir trotzdem merken.“
Die Fahrt verlief ziemlich einsilbig. Mike erklärte ihr, welche Sehenswürdigkeiten es in Boston gab. Sie dagegen hörte ihn reden, aber sie nahm ihn nicht wahr. Die Informationen kamen einfach nicht in ihrem Gehirn an. In ihren Gedanken war sie abgeschweift zu Ralf. An der North Station zog er sie aus der T und wechselte mit ihr auf die Green Line. Drei Haltestationen später, zog er sie erneut aus der T und verließ mit ihr die T-Station.
„Hast du etwas Lust spazieren zu gehen? Ungefähr 500 Meter geradeaus durch den Park ist unser Ziel.“
„Bei dem schönen Wetter keine schlechte Idee. Ich wusste gar nicht, dass es so einen großen Park hier gibt.“
„Das ist der berühmte Public Garden. Erholungsfleck für die gestressten Städter.“
Sie gingen ein Stück nebeneinander her, als Mike genau das aussprach, was ihn bei ihr am meisten beschäftigte.
„Warum bist du so, wie du bist?“
„Die meisten Theorien der Pädagogik sagen, dass jeder Mensch ein Teil Vererbung und ein Teil Erziehung und Umwelteinflüsse ist. Sie streiten sich nur darum, wie die Verteilung ist. Folglich bin ich so, weil ich das Kind meiner Eltern bin und sie und meine Umwelt mich erziehen und prägen“, belehrte sie ihn altklug.
„Danke für die Belehrungen, aber das habe ich nicht gemeint“, sagte er wieder sarkastisch. „Ich meinte viel mehr dein Denken und Handeln. Es ist nicht vorausschaubar. Ich könnte dir wahrscheinlich zehn Fragen stellen und würde bei jeder wieder überrascht sein von deiner Antwort.“
„Welche zehn Fragen würdest du wissen wollen?“ fragte sie nach und überraschte ihn ein weiteres Mal.
„Wie schon gesagt, wundert mich am meisten, warum du dich selbst so fertig machst, wegen deinem Mann. Was steckt dahinter?“
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