Die Gewerkschaften verhielten sich nicht anders. Sie profitierten von der Situation, gründeten eine eigene Personalentwicklungsgesellschaft und plädierten auf der Betriebsversammlung für die Maßnahme, anstatt die Massenentlassung zu verhindern oder infrage zu stellen.
Das zufriedene Lachen der Direktoren in New York und das Klirren der Sektgläser schallte von Amerika bis nach Villbeck. Die Telefonleitungen platzten beinah vor lauter Jubel, den sie zu transportieren hatten, und als es soweit war, entleerten sie sich mitten in die Brust von Bergstein, der daraufhin wie ein riesiger Luftballon anschwoll. Seine Füße berührten kaum noch die Erde. Direktoren, deren Pupillen aus Dollarzeichen bestan-den, und deren Sätze mit Dollarzeichen endeten und nicht mit einem Punkt, ehrten ihn in der Konzern-zentrale für die so kostengünstige Massenentlassung! Durch seine Restrukturierung seien die Aktien in die Höhe geschnellt. Mit geringem Aufwand seien Personalkosten reduziert worden, das hätte den Aktienkurs enorm beflügelt. Sie klopften ihm auf die Schulter, erweiterten seinen Zuständigkeitsbereich auf ganz Nordeuropa und verdoppelten sein Gehalt.
Bergstein wuchsen Flügel, und er stieg hoch in die Luft. Die Gegenstände, insbesondere die Menschen, wurden dabei in seinen Augen immer kleiner. In Wirklichkeit hatte Bergstein aber nur eine Betriebs-vereinbarung geschlossen, eine Vereinbarung, deren Muster er von seinem alten Arbeitgeber besorgt hatte; mit den Folgen des Sozialplans selbst hatte er nichts zu tun. Als es soweit war, befand er sich ständig auf angeblichen "Dienstreisen". Die eigentliche, die Drecksarbeit, wie Anmeldung der Massenentlassung beim Arbeitsamt, Gespräche mit jenen Mitarbeitern, die in die „Personalentwicklungsgesellschaft“ wech-seln oder „freigesetzt“ werden sollten, Anhörung des Betriebsrats und schließlich das Verfassen von Aufhe-bungsverträgen erledigte Brás ganz allein.
Die Erstellung der Tabellen für die Personalentwick-lungsgesellschaft, die Eingabe der Abfindungen in das System und die darauf gestützten Abrechnungen machte Hans-Martin Herbst. Sie hatten an allen Wochenenden im April gearbeitet. Sie waren den Enttäuschungen und berechtigten Aggressionen ihrer Kollegen ausgesetzt. Sie hatten die Entlassungen zu rechtfertigen, mit denen sie doch selbst nicht einverstanden waren. Mani Brás leitete die Personal-abteilung seit der Entlassung seiner Chefin bis Ende April 2001 erfolgreich. Er arbeitete nach wie vor sehr motiviert. Er war der einzige Ansprechpartner der Personalabteilung, da Bergstein oft abwesend war, und konnte endlich sein Fachwissen umsetzen.
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Bergstein hatte eine auffällige Zuneigung zu bestimmten Typen von Frauen. Für ihn gab es zwei Sorten von Frauen, und zwar die, die mit ihrem Aussehen ihrer Kleidung auf ihn anziehend wirkten, und die, die er aufgrund des Alters und der Erscheinung als Mutterersatz sah. Die Ersteren waren sich ihrer Schönheit und ihrer sexuellen Ausstrahlung bewusst, die sie auch immer wieder einsetzten, wenn sie etwas erschleichen wollten. Starke Frauen oder Frauen, die auf ihre Kleidung nicht achteten, mied er. Wenn solche Mitarbeiterinnen oder Besucherinnen ihm während eines Gesprächs widersprachen, bekam er ein knallrotes Gesicht und stotterte -trotz seiner hohen Position im Unternehmen. In einem kleinen, sicheren Kreis lachte er über diese Frauen, indem er ihre Sätze Grimassen schneidend wiederholte und ihre angeblich alternativ aussehende Kleidung abfällig beschrieb.
Bergsteins Kopf war immer etwas nach links gebeugt. Er hatte kurze, stachelige Haare, die seinem Kopf das Aussehen eines Igels bescherten. Sein Gesicht war oval. Er trug eine Brille. Seine Blicke waren immer in die Ferne fixiert, als würde er sich gerade mit Sachen beschäftigen, die eine besondere Anstrengung verlangten. Er schien selten geistig abwesend und ebenso selten hörte er einem zu -- was zur Folge hatte, dass er die gleiche Sache mindestens vier- bis fünfmal erfragte, falsch wiedergab und die Zusammenhänge nicht erkannte. Auch Auch nach Jahren kannte er die meisten Mitarbeiter nicht. Er kannte nur die Namen der Mitglieder der Geschäftsleitung und die einiger Vorgesetzter. Seine Nase war spitz, seine Ohren wirkten durch die kurzen Haare noch größer und irgendwie deplatziert, als wären sie im Nachhinein angeklebt worden. Die Lippen waren in der Mitte dick, als wären sie zurückgerollt, und zeigten oft seine Schneidezähne, insbesondere wenn er beim Formen seiner hinterhältigen Gedanken konzentriert in die Ferne blickte. In diesem Moment hatte er das Aussehen von einem Dachs. Das Gesicht war schmal und ausdruckslos, als wäre es von einer Maske überdeckt, die sich auf einen Tastendruck hin von einer Sekunde auf die andere veränderte, weich oder hart wurde.
Bergstein war sehr nachtragend. Wenn ein Mitarbeiter irgendwann aus irgendeinem Grund negativ auffiel, wurde er für immer als schlechter Mitarbeiter stigmatisiert. Nie erhielt er die Möglichkeit, sich zu verbessern oder zu zeigen, dass es sich um einen einmaligen Fehler gehandelt hatte. Sein einmaliges Fehlverhalten war das Einzige, was im Gedächtnis von Bergstein haften blieb, und das war schlimmer als ein Sieb. Er schlug jedes Mal zu — und wählte fast immer dieselben Mitarbeiter für den Personalabbau aus. Dabei vergaß er jedes Mal Wesentliches, sodass er bei dem einen oder anderen Mitarbeiter die Klage verlor oder die Kündigung aus den unterschiedlichsten Gründen zurücknehmen musste, wenn es darum ging, die Anzahl der Mitarbeiter zu reduzieren. Er zeigte oder er hatte keine Gefühle. Er sprach die Mitarbeiter, die entlassen werden sollten, ruhig und monoton an, am Mittagstisch, am Kaffeeautomaten, auf dem Parkplatz oder im Flur, eben dort, wo immer er sie gerade antraf, stets im Beisein von anderen, als würde er etwas Belangloses mitteilen.
Mitarbeiter, die aufgrund eines traurigen Ereignisses geschwächt oder nicht in der Lage waren, klar zu denken, erhielten sofort die Kündigung oder es wurde ihnen der Abschluss einer einvernehmlichen Verein-barung über die Beendigung des Arbeits-verhältnisses angeboten, die sie dann in ihrem schwachen Zustand unterschrieben. So wurde das Arbeitsverhältnis mit Rolf Schmidtbauer genau in der Zeit beendet, als seine Frau ihn mit dem einjährigen Baby plötzlich verlassen hat. Günther Wiechmann erhielt das Kündigungs-schreiben nach seinem Hirnschlag im Krankenhaus. Im Fall Wiechmann übertraf Bergsteins Verhalten jede Vorstellungskraft und zeigte wieder einmal, wie wenig fassbar sein gesamter Charakter war. Wiechmann war von der Firma Ambros abgeworben und als Vertriebs-direktor für den ostasiatischen Markt eingestellt worden. Er war 51-jährig, Vater von vier Kindern und Alleinverdiener. Mit der Wechselprämie hatte er den Kauf eines Hauses teilfinanziert. Am vorletzten Tag der Probezeit von sechs Monaten teilte ihm Bergstein mündlich mit, dass er die Probezeit nicht bestanden hätte und das Arbeitsverhältnis am kommenden Tag enden würde. Noch am selben Tag erlitt Wiechmann einen Hirnschlag. Am nächsten Tag mit dem regulären Beginn der Arbeitszeit bat Bergstein den Betriebsrats-vorsitzenden, Otto Roland, mit ins Krankenhaus zu gehen. Roland ging gerne mit, weil er wie alle Mitarbeiter dachte, der Besuch sei gedacht als Erfüllung einer Vorsorgepflicht des Arbeitgebers oder einfach eine nette Geste von Bergstein. Wiechmann befand sich noch auf der Intensivstation. Seine Frau und die älteste Tochter warteten allein in einem großen, kahlen und sterilen Raum sorgenvoll und mit roten Augen. Bergstein stellte sich vor und erkundigte sich monoton nach dem Befinden von Wiechmann. Sie wisse noch nichts, sagte die Frau, der behandelnde Arzt sei kurz da gewesen und hatte mitgeteilt, dass der Gesundheitszustand sehr ernst sei. Sie brach dann in Weinen aus. Roland umarmte sie und versuchte, sie liebevoll zu trösten. Kaum hatte sie sich beruhigt, zog Bergstein aus seiner Jackentasche einen Briefum-schlag und überreichte ihn Frau Wiechmann. Mit dem bekannten unveränderten Ton fügte er an, dass es ihm sehr leidtue. Die Firma sei gezwungen, das Arbeits-verhältnis mit ihrem Mann mit dem heutigen Tag aufzulösen. Sie und Roland schauten versteinert und fassungslos. Roland zitterte später vor Wut und schrie Bergstein an, der unbeeindruckt blieb. Infolge des Gehirnschlags hatte Günther Wiechmann eine Ge-sichtslähmung und konnte nicht mehr sprechen. Auch beide Beine waren gelähmt, er war so geschädigt, dass er den Rest seines Lebens auf den Rollstuhl angewie-sen bleiben sollte.
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