Werner Renz
Fritz Bauer und das Versagen der Justiz
Von der »Tragödie« der bundesdeutschen Verfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher schreibt Fritz Bauer im März 1966 in einem Brief an seinen Freund Thomas Harlan. Die bundesdeutsche Strafjustiz kannte ausschließlich Haupttäter wie Hitler, Himmler, Heydrich etc. und wenige Mittäter. In der rechtlichen Aburteilung der an den Menschheitsverbrechen des Holocaust Beteiligten erkannten die Gerichte meist auf bloße Gehilfenschaft.
Werner Renz legt hier Bauers Vorstellungen vom Sinn und Zweck der NS-Prozesse dar und analysiert die Vorgeschichte und den Verlauf des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965).
Werner Renz, Germanistik- und Philosophie-Studium an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in der Abteilung Archiv und Bibliothek, Redakteur der EINSICHT. Bulletin des Fritz Bauer Instituts. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Zahlreiche Veröffentlichungen dazu.
Werner Renz
Fritz Bauer und das Versagen der Justiz
Nazi-Prozesse und ihre »Tragödie«
CEP Europäische Verlagsanstalt
Renz, Werner:
Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Nazi-Prozesse und ihre »Tragödie«
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
Coverabbildung: © Fritz Bauer Institut
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ISBN 978-3-86393-532-0
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Fritz Bauer zum Zweck der NS-Prozesse
Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zwei Vorgeschichten
Auschwitz als Augenscheinsobjekt: Ortstermin in Auschwitz
Auschwitz und die deutsche Strafjustiz
Stimmen der Opfer und der Täter. Der Tonbandmitschnitt
Deutsche Erinnerungskultur: Täterexkulpation und Opfergedenken
Fritz Bauers skeptische Bilanz zu den NS-Prozessen
»Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.« Auschwitz-Prozess und Springer-Presse
Fritz Bauer im Dokumentar- und Spielfilm
Anhang
Erstveröffentlichungsnachweis
Personenregister
EINLEITUNG
»Sie sollten den Leuten klar machen, die in mir einen Protagonisten einer Vergangenheitsbewältigung sehen, daß es mir noch keine Sekunde um die Vergangenheit ging, sondern um Gegenwart und Zukunft.«1
Von der »Tragödie« der bundesdeutschen Verfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher schrieb Fritz Bauer (1903–1968) im März 1966 in einem Brief an seinen Freund Thomas Harlan.2 Bauer blickte voller Resignation und Bitterkeit insbesondere auf Prozesse zurück, die vor dem Frankfurter Landgericht verhandelt worden waren. Da war zum einen das skandalöse Urteil im Verfahren gegen die beiden Mitarbeiter Adolf Eichmanns, Hermann Krumey und Otto Hunsche, die im Sommer 1944 zusammen mit dem »Spediteur des Todes« 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert hatten.3 Da war zum anderen der spektakuläre Auschwitz-Prozess mit der Verurteilung von zehn Angeklagten nur wegen Beihilfe und nicht wegen Mittäterschaft zum Mord.4
Warum sprach Bauer im Rückblick auf die NS-Prozesse von ihrer »Tragödie«? Hatten die Verfahren nicht geleistet, worum es ihm vorrangig und erklärtermaßen ging?
Umfassende politische Aufklärung durch zweifelsfreie Tatsachenfeststellungen der Schwurgerichte sowie die in der Beweisaufnahme zu Gehör gebrachten Stimmen der überlebenden Opfer waren unstrittig wichtigste Ergebnisse der NS-Prozesse. Doch hatten die Strafgerichte das Tun und Lassen der Angeklagten tatangemessen qualifiziert? Hatten sie die strafrechtliche Verantwortung der NS-Verbrecher überzeugend gewürdigt?
Die bundesdeutsche Strafjustiz kannte als »Haupttäter« und »Taturheber« nur Hitler, Himmler und Heydrich etc. und nur wenige weitere Täter und Mittäter. Diese hatten entweder eigenmächtig und befehlslos getötet oder sich im Konsens mit der verbrecherischen Staatsführung die befohlenen Taten zu eigen gemacht, sie als eigene gewollt.
In den bundesdeutschen NS-Prozessen wurden von den rund 6600 verurteilten Angeklagten nur circa 170 als Mörder qualifiziert und zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.5
Unter den abertausenden Mitwirkenden an der Shoah6 waren der nachsichtigen Justiz die bloßen Gehilfen geradezu Legion. In der rechtlichen Würdigung der Tatbeteiligung an dem Menschheitsverbrechen, das wir heute Shoah nennen, erkannten die Gerichte meist nur auf Gehilfenschaft. Das Personal der Vernichtungslager, die Angehörigen von Erschießungskommandos (Einsatzgruppen), die Mitarbeiter von Gestapostellen, die Juden in Ghettos und Todeslager deportierten, hatten nach Auffassung der deutschen Strafrichter die befohlene Tat, die Judenvernichtung, nur als fremde Tat fördern und unterstützen und nicht als eigene begehen wollen.
Bauer hatte sich Ende der 1950er Jahre, als er voller Energie in Hessen NS-Verfahren in Gang brachte, von den Prozessen viel erhofft. Sie sollten den Deutschen »Schule« und »Lehre« sein und »Lektionen« erteilen. Die Bundesdeutschen im Wirtschaftswunderland erwiesen sich freilich als ungelehrige Schüler. Die Prozesse erzielten nicht die volkspädagogische Wirkung, die Bauer um einer besseren Zukunft willen erwartet hatte.
Bereits im schwedischen Exil befasste sich der deutsche Patriot Bauer mit der Frage der justiziellen Ahndung der NS-Verbrechen und veröffentlichte 1944/1945 sein Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht gleich in drei Sprachen, auf Schwedisch, Dänisch und Deutsch.7 In einem Beitrag für die von ihm und Willy Brandt herausgegebene Exilzeitung Sozialistische Tribüne vom Februar 1945 erörterte Bauer die notwendige »Abrechnung mit den Kriegsverbrechern« und sprach sich im Namen der »deutschen Opposition« für eine »durchgreifende Revolution gegen Kriegsanstifter, Kriegsverbrecher und Verbrecher am deutschen Volke«8 aus. Mit Revolution meinte er eine auf »revolutionäres Recht« gestützte Aburteilung der NS-Verbrecher, das heißt, mit Hilfe eines Rechts, das erst rückwirkend zu schaffen sei. Auf der Grundlage des geltenden Rechts war nach Bauer die geforderte »Abrechnung« nicht möglich. So heißt es: »Die nazistische Revolution muss durch eine antinazistische Gegenrevolution beseitigt werden. Die Antinazisten können einen Mittelweg beschreiten, indem sie revolutionäre Gesetze und Revolutionstribunale mit rückwirkender Kraft schaffen, aber auch dieser Weg ist nicht der des geltenden Rechts, sondern der Weg revolutionären Rechts. Bestimmt sich das Volk zu ihm, werden wir nicht nur den Alliierten viele Schwierigkeiten abnehmen. Wir werden auch die Glaubwürdigkeit und Effektivität eines neuen Deutschland beweisen.«9
Anders als Bauer sich erhofft hatte, haben die Alliierten und nicht die Deutschen Nürnberg veranstaltet. Es gab keine »Antinazisten« als politisch starke und einflussreiche Kraft, weder im Exil noch im besetzten Deutschland, die gegenüber den Alliierten eine juristische Selbstreinigung hätten durchsetzen können. Bauer war diese Entwicklung keineswegs recht. In einem Artikel über den Nürnberger Prozess meinte er: »Deutsche Antinazisten bedauern, dass die Verurteilung der nazistischen Verbrechen durch alliierte und nicht durch deutsche Gerichte erfolgt. […] Sie bedauern es, weil deutsche Gerichte Gelegenheit gehabt hätten, klar und deutlich der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass das neue Deutschland wieder ein Rechtsstaat geworden ist, der mit der rechtlosen Vergangenheit bricht und die nazistischen Vorstellungen, Macht sei Recht, verflucht.«10
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