"Er hat mich den Aufhebungsvertrag schreiben lassen und selbst schon unterschrieben. Er sagte mir, ich solle das mit Ihnen machen, er müsse dringend nach Bra-tislava."
Sie überflog den Vertragstext, ein paar Zettel, mit deren Unterzeichnung ihr 31-jähriges Arbeitsverhältnis zum Ende des Monats Oktober einvernehmlich been-det würde, und holte den Füller aus ihrer Handtasche. Da sprang Brás auf, ergriff ihren Arm und hielt ihn fest.
"Tun Sie nichts Unüberlegtes, Frau Schultheiß! Lassen Sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen!"
"Ach, Herr Brás! Danke für Ihre Sorge. Aber meine Ent-scheidung ist längst gefallen. Schauen Sie sich doch die Situation an: Der neue Geschäftsführer, mit dem ich mich eigentlich recht gut verstanden habe, ist auf Bergsteins Linie eingeschwenkt. Über den heutigen Termin ist er bestimmt informiert. Trotzdem kommt er nicht mal von seinem Büro herunter, um „Auf Wieder-sehen“ zu sagen. Und der feige Bergstein selbst muss-te angeblich nach Bratislava. Nach einunddreißig Jahren werde ich so verabschiedet! Nein danke, kein Interesse mehr an diesem Laden!"
Sie nahm den Füllhalter und unterzeichnete. Die für sie bestimmte Ausfertigung steckte sie in ihre Tasche. Dann verließ sie das Büro, kerzengerade, doch mit tief gesenktem Kopf, ohne Brás und den Raum noch ein-mal eines Blickes zu würdigen. In unveränderter Hal-tung schritt sie durch den verwinkelten und dunklen Flur. Obwohl sie nichts als den Boden ansah, wusste sie, wie die anderen reagierten. Sie spürte, dass die Kolleginnen und Kollegen sich in ihren Löchern ver-krochen hatten; manche schauten wohl scheu durch offene Türen. Entweder hatten sie Angst um ihren eigenen Arbeitsplatz oder sie wussten nicht, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten sollten. So verfolgten sie das Bild der das Betriebsgebäude ver-lassenden Schultheiß mit unsicher fragender, schüch-terner Miene. Sie aber wusste genau: Keiner traute sich, sie anzusprechen. Im Hof angekommen, fühlte sie unzählige Augenpaare hinter den Fensterscheiben auf sich gerichtet, spürte, wie viele Blicke an ihr hafteten — und wie einsam und verlassen sie war. Doch sie drehte sich nicht mehr um, um die Neugierigen nicht in Verlegenheit zu bringen und auch, um sich nicht noch mehr wehzutun.
Kaum hatte sie das Betriebsgelände verlassen, schlug die Erinnerung zu. Das Erlebte wurde lebendig, das im Gedächtnis Gespeicherte lief vor ihrem inneren Auge ab wie ein Film, ein Film, der auch schöne Momente enthielt und ihr zuweilen sogar ein Lächeln ins ernste Gesicht zaubern konnte.
An der Ecke vor dem Überqueren der Straße wandte sie sich kurz um. Sie sah sich, wie sie vor 31 Jahren zum ersten Mal durch das Tor, das sie gerade verlassen hatte, hereinkam, als wäre es eben, und sie stünde daneben und beobachte sich. Damals, das war ein rei-ner Zufall, sie war zu Fuß unterwegs gewesen von Bischofsheim, wo sie nach der Scheidung eine Zwei-zimmer-Wohnung gemietet hatte, zur Kirmes am Rast-weg. Damals ging sie, wie von einem siebten Sinn gesteuert, in die Bernhausener Landstraße, zum Per-sonalbüro der dortigen Automobilzulieferfirma, Sparte PKW-Innenausstattung. Nach kurzen Gesprächen, zuerst mit der Personalleiterin, dann mit dem Ge-schäftsführer, erhielt sie die mündliche Zusage (und das, sie fasste es selbst kaum!, ohne Vorlage jeglicher Bewerbungsunterlagen, die erst später, bei Aufnahme der Tätigkeit, mitzubringen waren), zu Beginn des Fol-gemonats, in zwei Wochen, könne sie anfangen, als Schreibkraft in der Abteilung Fertigungsplanung.
Vierundzwanzig war sie damals. Jung, groß, schlank, lange Haare und endlos lange Beine. Ihre betont weib-liche Erscheinung, eine klug gewählte Kleidung, kalku-liert freizügig und ihre Linien unterstreichend, doch hinreichend dezent, lenkte ab von dem länglichen Ge-sicht, das für sich betrachtet ein wenig unreif aussah. Punkten konnte sie besonders mit ihrer Ausstrahlung. Sie wirkte ausgeglichen, fröhlich und manchmal beinah übermütig, was dem Gegenüber zumeist den Eindruck vermittelte, dass sie wisse, was sie wolle, von sich überzeugt sei und sich von ihren Entscheidungen auch nicht leicht abbringen lasse.
Vier Jahre war sie mit einem sehr konservativen Mann unglücklich verheiratet gewesen, einem Mann, der sich weder von seiner Mutter hatte lösen können noch von den Bräuchen und Traditionen des kleinen Dorfes am Rande Villbecks, in dem sie wohnten. Nun, nach der Scheidung, fühlte sie sich einerseits frei, wie aus langer Gefangenschaft entlassen. Andererseits merkte sie immer wieder, wie die Wut auf den Ex-Mann, auf seine Familie, auf sich selbst und die verlorenen Jahre in ihr hochstieg. Sie sehnte sich nach einem wirklich freien Leben, nach Anerkennung ihres Frau-Seins, und sie träumte davon, Versäumtes nachzuholen. Denen, für die sie bestimmt war, blieb die erotische Aura der Willigen nicht verborgen. Sie war die einzige Frau in der Abteilung, und Nähe zu den männlichen Mitar-beitern stellte sich ein. Eine beinah kindlich offene Art, ansteckende Neugier und die kaum verhohlene Be-reitschaft zu flirten, zu necken und zu spielen, das waren Reize, die die begeisterten Kollegen wohl zu schätzen wussten.
Später sagte sie immer wieder, dass die Zeit in der Fertigungsplanung ihre schönste Zeit in der Firma gewesen sei. Sie erzählte von den Gesprächen, die sie damals miteinander führten, von Witzen und witzigen Verhaltensweisen der Kollegen, zum Beispiel in den ausgedehnten Frühstücks- und Mittagspausen, von den einmal im Jahr gemeinsam unternommenen Rei-sen innerhalb Deutschlands oder von den Weihnachts-feiern am letzten Arbeitstag des Jahres vorm Heiligen Abend, die schon so früh begonnen und so spät geendet hätten. Gegessen habe man reichlich und gut, und der Alkohol sei wie Wasser geflossen, sodass die meisten Kollegen am Ende total besoffen und nicht mehr in der Lage gewesen seien, alleine nach Hause zu fahren. Auch von den alljährlichen Betriebs-, Jubi-läums- und Geburtstagsfeiern berichtete sie; begeis-tert schwärmte sie von der Atmosphäre, die dabei ge-herrscht habe. Das Beste sei freilich gewesen, dass man sich immer gegenseitig geholfen habe, dass man sich die Zeit genommen habe, sich auszutauschen, nach dem Wohlbefinden des anderen, nach seinen Urlaubserlebnissen zu fragen, gemeinsam über Freu-den und Sorgen zu reden. Aber wenn es ums Arbeiten gegangen sei, hätten sie sich alle am Riemen gerissen und hätten sich nach Kräften eingesetzt; unendlich motiviert seien sie gewesen und hätten darum immer alles gegeben, alles, was sie geben konnten. Wenn erforderlich, hätte man manchmal auch bis zum späten Abend und samstags und sonntags gearbeitet. Aufträge und Arbeit hätten sie genug und mehr als genug gehabt damals. Von allen namhaften Auto-mobilherstellern hätten sie Aufträge erhalten, die Geschäfte seien gut gelaufen, sehr gut sogar. Drei Schichten habe man gefahren, und selbst die seien überlastet gewesen. Die Gewinne hätten nur so ge-sprudelt, ein Teil sei in den Aufbau neuer Fertigungs-werke in Birmingham und Ilmenau gegangen. Später, als Personalleiterin, sei es ihr eine große Freude ge-wesen, die Leute von der Straße zu holen und fast jeden, der vorbeikam, einstellen zu können.
Dann ihre Zeit in der Personalabteilung; nach zwei Jahren war sie hierhin versetzt worden, als Sekretärin zunächst. Bald begleitete sie den Geschäftsführer auf dessen häufigen Dienstreisen nach Amerika, England, Italien und Spanien, aber auch zu Kunden im Inland, Automobilherstellern zumeist. Das stärkte das Selbst-bewusstsein der noch immer vorwitzig frech wir-kenden, in Wirklichkeit jedoch wegen ihrer Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen schüchternen jungen Frau ganz enorm.
Eines Tages verstarb unerwartet ihre Vorgesetzte, eine um etliches ältere Frau, alleinstehend und alkoholab-hängig. So standen ihr mit einem Mal alle Karriere-chancen offen, sie brauchte sie nur zu ergreifen. Und das tat sie. Denn als der Geschäftsführer ihr wenig später die Nachfolge der Verstorbenen auf die Stelle der Personalleiterin antrug, eine mit allen Befugnissen ausgestattete Position direkt unterhalb der Führungs-ebene mit Berichtspflicht direkt an ihn, zögerte sie keine Sekunde, dieses Angebot anzunehmen. Erfüllt von Freude und Stolz, gewann sie Statur und wuchs schnell in die neue Stelle und deren Bedeutung hinein. Von nun an pflegte sie ihre äußere Erscheinung noch bewusster: Immer hielt sie sich kerzengerade, achtete (natürlich!) auf Gewicht und Figur sowie darauf, dass Make-up, Frisur und Kleidung perfekt zueinander-passten, kontrollierte Mimik, Gestik und Haltung auch in schwierigster Lage und gewöhnte sich an, souverän durch die Flure zu schreiten und dominant einen Raum zu betreten.
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