Bald schon hatte sie sich allseits Achtung und Aner-kennung erworben: bei den Unternehmen und Insti-tutionen, mit denen sie geschäftlich zu tun hatte, ebenso wie bei Vorgesetzten und bei den Mitar-beitern, quer durch die Abteilungen hindurch. Wo immer sie erschien — Engineering, Marketing, Ferti-gungsplanung, Einkauf oder Produktion — begegnete man ihr mit großem Respekt. Ihr blieb das nicht ver-borgen, und sie fühlte, wie sie aufblühte vor Freude und Stolz. Doch was war das für eine schöne Zeit ge-wesen, als sie beschwingten Schritts durch den Betrieb gelaufen war, unbeschwert, ohne diese Verantwor-tung, aufgehoben unter vielen. Nun, da ihr ihre Ein-samkeit bewusst wurde, fühlte sie die Erinnerung wie Messerstiche im Herz.
Ach! Wenn sie morgens zur Arbeit gekommen war oder durch die Abteilungen wie Engineering, Euroey-ting, Fertigungsplanung, Einkauf oder Produktion lief und die Mitarbeiter begrüßte, wie freundlich hatten die ihren Gruß erwidert! Egal, ob sie sich gerade ge-schäftlich oder privat mit Kunden oder miteinander unterhielten, ob sie in Arbeit vertieft waren oder sonstwie beschäftigt! So laut hatten alle gegrüßt, als würden sie sich gegenseitig übertönen wollen, und sie machten eine ehrerbietige Bewegung und drehten sich zu ihr um, und wenn sie vorbei war, hatten sie ihr noch lange nachgeschaut. Sie erinnerte an all das, als sei es gestern gewesen, und diese Erinnerung tat ihr weh.
Jetzt war sie Mitte fünfzig. Wie schnell waren die Jahre vergangen! Sie waren verflogen. Wo ist die Zeit geblieben? Fast hätte sie die Frage laut gesprochen. Außer Arbeit hatte sie fast nichts erlebt. Dennoch hatten die Jahre ihre Spuren deutlich hinterlassen. Die Haare waren weiß und kürzer geworden. Das Gesicht hatte zwar seine Form behalten, aber es war gezeich-net von dem Erlebten und vom Altwerden. Form und Haltung des ganzen Körpers hatten sich geändert. War ihre Schönheit früher jedem sofort ins Auge gefallen, so glühte sie jetzt unter den Zeichen des Alterns glei-chermaßen nach. Unverändert blieben nur ihre ge-pflegte Erscheinung und die seriös-distanzierte Aus-strahlung.
Bis zu ihrem letzten Arbeitstag vor dem Urlaubsantritt und der darauf folgenden Erkrankung war sie motiviert und pflichtbewusst, behielt jedoch stets ihren kri-tischen Blick; auch ihren Willen zur Vollkommenheit hatte sie darüber nicht verloren. Bevor sie etwas zur Unterschrift vorlegte, prüfte sie alles — auch die Zuarbeit von Brás — eingehend, sodass die Arbeitser-gebnisse bis zu ihrem letzten Arbeitstag fehlerfrei waren. Auch sorgte sie immer dafür, dass die Vor-schriften zu den Arbeitsabläufen strikt beachtet und Termine genau eingehalten wurden, auch wenn dies ihr enorme Kraft und Anstrengungen abverlangte. Die Zuständigkeit für den Abschluss der Arbeitsverträge und der Betriebsvereinbarungen hatte sie sich vor-behalten. Auch pflegte sie bis zuletzt die Kontakte zu Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Hochschulen und anderen Institutionen; sie selbst hatte sie früher aufgebaut. Alles andere aber delegierte sie an Mani Brás, seit sie ihn, nach der Eigenkündigung ihrer dama-ligen Sekretärin, zu sich geholt hatte.
Die Firma war der Inhalt und der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen! Kontakte hatte sie nicht gepflegt, bis auf eine Ausnahme (eine Freundin) waren die weni-gen Freundschaften im Laufe der Zeit verloren gegan-gen. Das übrige Leben mit all seinen Möglichkeiten, seiner Vielfältigkeit und Buntheit blieb vor den Toren der Firma, beschränkt auf den Inhalt der Arbeit und ihre unmittelbaren Auswirkungen. Hier, bei der Arbeit, verbrachte sie die meiste Zeit, fand sie Anerkennung und Respekt, wenn auch auf das Firmengelände begrenzt, es sei denn, sie traf durch Zufall einen Mitarbeiter draußen, außerhalb der Firma. Wer immer jetzt auf sie traf, in der Straßenbahn oder beim Einkau-fen, fand sie wie üblich gepflegt, in kerzengerader Haltung und mit der bekannt stolzen Miene. Doch hinter diesem Verhalten verbarg sich nicht mehr das Bewusstsein, das sie im Betrieb gehabt hatte, sondern eine tiefe Unsicherheit, Folge ihres Entferntseins, vom Leben außerhalb der Firma wie auch ihrer Einsamkeit.
Jetzt wurde ihr erstmals bewusst, die Zeit war für im-mer weg und ließ nur noch Erinnerungen zurück, Er-innerungen, die schmerzten, und die ihr bisweilen das Gefühl gaben, dass das Leben keinen Sinn mehr habe.
Von traurigen Gedanken gefesselt, blieb sie noch eine Weile reglos im Auto sitzen.
Die Operation hatte sie schließlich gut überstanden. Als sie wieder zu Kräften kam, spürte sie Wut, eine große Wut auf ihre alte Firma, der sie sich regelrecht aufgeopfert hatte. Insbesondere Undankbarkeit und Unwürdigkeit der Entlassung hinterließen tiefe Wun-den in ihrem Herzen, Wunden, die nicht verheilen woll-ten. Sie pflegte noch Kontakte zu Herbst und zu Brás, mit denen sie sich regelmäßig traf. Sie sprach immer von der Vergangenheit. Jedes Mal fragte sie voller Zorn und Bitterkeit, was Bergstein und ‚seine Dicke‘ machen würden. Sie informierte sich über jede Ände-rung und Entwicklung im Unternehmen und kom-mentierte sie. Über ihre Nachfolgerin äußerte sie sich immer herablassender und aggressiver.
4
Brás hatte dichte dunkle Haare, braune Augen, einen etwas schiefen Mund und ein ovales Gesicht. Er war mittelgroß und schlank. Brás war ein fröhlicher Mensch, witzig. Immer strahlte er Freude und Optimis-mus aus. Diese Charaktereigenschaften halfen ihm, in jedem Ereignis das Positive zu sehen. So glaubte er felsenfest daran, dass allen düsteren Erlebnissen helle Zeiten folgten. Das Bewältigen auftretender Schwie-rigkeiten bereite ja schließlich eine große Freude. Seine innere Ruhe äußerte sich in seinem entspannten Gesicht, lachenden Blicken und leichten Bewegungen. Andererseits war er scheu und unsicher, er vermied direkte Augenkontakte und lief nicht selten verträumt durch die Gegend, versunken in seinen Gedanken, die ihn von der Außenwelt abschirmten.
Brás war wie ein von Menschenhand nicht berührter glasklarer Fluss in den Bergen oder in der Wildnis, und genauso klar und rein sah er seine Mitmenschen. Sein Herz war weich wie Samt, und jede Äußerung, jeder Blick und jedes Verhalten eines anderen landete direkt in der Tiefe dieses samtweichen Herzens. Umgekehrt reagierte er auf seine Mitmenschen eben mit dieser Weichheit und Reinheit seines Herzens. Es offenbarte sich in ständigem Lächeln und steter Hilfsbereitschaft, was einigen Gesprächspartnern oft übertrieben, fremd, ja künstlich vorkam und entsprechende Reak-tionen nicht verbergen ließ. Solche Reaktionen verletz-ten Brás oft. Das geschah schnell, weil er nur an die positiven Seiten des Menschen dachte, im Grunde naiv war und mit seinem Verhalten seine Freundlichkeit, Offenheit, Menschlichkeit sichtbar machen wollte. Mit achtzehn Jahren war er nach Deutschland gekommen, ganz allein und ohne Geld. Er war geflohen vor un-überwindbarer Armut und vor seiner desolaten Fami-lie. Er träumte von einem Leben in Deutschland mit offenen, freundlichen und kultivierten Menschen, mit Arbeit und ohne finanzielle Sorgen. Schon zu Beginn seiner Migration hat er feststellen müssen, dass sich die Menschen in den Industrieländern nicht weniger darwinistisch verhielten als die Naturvölker; es galt das Recht des Stärkeren, und um besser oder länger leben zu können, war man bereit, sich den Veränderungen mehr als wirklich nötig anzupassen. Sie liefen stock-steif, als wären sie ferngesteuert. Sie sprachen, lach-ten und aßen, als wären sie allein auf der Welt. Sie hatten die Fähigkeit, mit ihren Blicken und Verhalten das Vorhandene nicht vorhanden, das Geschehene ungeschehen zu machen, mit offenen Augen den Nebenstehenden nicht zu sehen, die Ereignisse, die sie nicht betrafen, nicht wahrzunehmen. Diese Fähigkeit der Menschen, diese Anpassung wirbelte Brás‘ Welt durcheinander. Er fand den Industriemenschen zwar technisch entwickelt, jedoch sozial schwach, ego-istisch und mit Vorurteilen behaftet. Einerseits verhielt er sich im Allgemeinen ungezügelt, andererseits lebte er sehr unfrei. Die Freiheit war auf die Freiheit des Ka-pitals reduziert, auf die Reisefreiheit und die Freiheit, politisch ungefährliche Meinungen zu äußern. Der höchste Wert, das höchste Gut, die Arbeit, fesselte die Menschen wie ein Kerker Fledermäuse, und dement-sprechend sahen sie die Welt. Dank technischer Errun-genschaft hielten sie fest am Glauben, dass der ein höherwertiger Mensch sei, der einer höherwertigeren Kultur angehört, und dass allein seine Werte und Nor-men allgemeingültig, abweichende aber minderwertig seien. Der Industriemensch beobachtet seinen Mit-menschen immer aus einer psychologisch-überheb-lichen und einer neidischen Perspektive, je nach seiner Lage in der Gesellschaft, und er schreibt diesem jeweils passende Eigenschaften zu, um sich selbst gut zu verorten, ja, um sich besser und wertvoller als der andere zu fühlen. Diese unsichtbare Mauer, gegen die jeder Fremde aus einem Land prallt, das industriell nicht hoch entwickelt ist, stößt und wirft ihn in die dunkelsten Bräuche und Traditionen seiner Kultur zu-rück. Er findet keine Offenheit vor, sondern Abschot-tung und Ablehnung. Man nimmt ihn nicht auf, man sondert ihn ab. Auch die einschlägigen Gesetze und Verordnungen engten seine Bewegungsfreiheit ein. Er konnte nicht einfach dorthin hingehen, wohin er woll-te. Bald fühlte sich Brás einer doppelten Beobachtung und Überwachung ausgesetzt: zum einen als Mensch, wie jeder andere in der gesellschaftlichen Hierarchie, und zum anderen als Fremder, von dem jede Äußerung und jedes Verhalten besonders beäugt, beurteilt, bewertet und begutachtet wird. Man wollte ihn in einen bestimmten Rahmen, in eine bestimmte Rolle zwängen. Was den anderen nicht passte, wurde mit verbaler Gewalt passend gemacht. Er spürte schmerz-haft, wie die Blicke auf ihm hafteten, wie Vorurteile ihn auf Schritt und Tritt verfolgten. Er war Gefangener dieser Blicke und Gedanken, und wenn er sich das klar machte, ahnte er, dass die Flucht ihm zu einer viel tieferen Enttäuschung geworden war als sein Leben in Armut.
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