Eines Tages wurde sie tot in ihrem Wagen auf dem Fir-menparkplatz aufgefunden. Walter Steinbach ging in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in den Ruhe- stand. Seitdem wurden keine Diebstähle mehr verzeichnet, es gab keine Streitereien mehr zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien in der Firma. Die Qualitäts-mängel wurden geringer. Auch die Krankheitsrate sank.
Brás ärgerte sich sehr über die provokativen Gesprä-che, aber traute sich nie, seine Meinung dazu zu sagen, obwohl er die Hintergründe der Emigration und die so-ziologischen Gründe des Verhaltens der Einheimischen und der Emigranten sehr gut verstand. Er schluckte alles. Er schluckte es wie ein Gift, das langsam, aber sicher wirkt. Doch es gab viele nette und freundliche Kollegen, die ihn schätzten, die ihn unterstützten, die ein Gegengift waren. Sein positives Menschenbild änderte sich nicht, auch wenn die Erlebnisse nicht spurlos an ihm vorübergingen. Er wusste nun, dass der Erfolg viele Neider hat. Er wusste aber auch, dass er keine höhere Position anstreben wollte. Denn der Umgang mit unliebsamen Mitarbeitern, mit den Men-schen aus der unteren betrieblichen Hierarchie schock-te ihn, zerstörte seine Illusionen von der Arbeitswelt. Er ärgerte sich sehr über die Menschen, die von einer Rolle in die andere schlüpften, wenn es darum ging, andere Kollegen anzuschwärzen, sich von Mitarbeitern zu trennen oder sich Vorteile zu schaffen. Diese Verhal-tensweisen nahmen nach dem Managementwechsel im Zuge der Globalisierung immer mehr zu. Die Werte hatten sich verschoben, ja, geändert. Nicht Fachwissen zählte, sondern die elastischen, nicht definierbaren Charakterzüge, bei höheren Positionen kombiniert mit der Einstellung zum Profit. Nicht Praxis und Erfahrung waren wichtig, sondern jene Idee, jene Theorie, die die deutlichste Verschlankung der Arbeitsabläufe und den höchsten Gewinn versprach. Nicht das Beherrschen des Aufgabengebietes zählte, sondern die Reaktion auf die jeweilige Situation. Nicht die Prinzipien der Menschenführung, sondern die Eigenprofilierung do-minierte. Werte wie Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Spar-samkeit, Ordnung und der Respekt füreinander siechten dahin wie eine Flamme in nasskalter Nacht. Brás durfte gar nicht daran denken, wie sehr die Infragestellung all dessen, was für ihn wichtig war, ihn getroffen hatte. Dabei sollte er noch am eigenen Leibe erfahren, wie der Kapitalismus funktionierte, wie Ar-beitsmethoden geändert wurden, weil der Grundsatz der Profitsteigerung es so verlangte, und wie heftig die industrialisierte Gesellschaft sich auf die zwischen-menschlichen Beziehungen der Mitarbeiter auswirkte.
Dies alles hinterließ seine Spuren bei Brás. Auf welche Art man seine Vorgesetzte entlassen hatte und wie man bei der Massenentlassung vorgegangen war, hatte ihm zwar die Augen geöffnet. Auch das ganze Verhalten Bergsteins, der diese Kultur der Kulturlos-igkeit eingeführt hatte, erschütterte sein Menschen-bild. Doch diese Werteverschiebung übersah er, oder er wollte sie zunächst nicht sehen oder wahrhaben, weil sein neuer Chef, Bergstein, ihn gelobt hatte, da-mals, in einem Gespräch nach den reibungslos verlau-fenen Entlassungen, und ihm gesagt hatte, er, Brás, habe in der Krisenzeit gezeigt, wie fleißig und enga-giert er arbeiten würde. Schließlich hatte Bergstein ihm zugesichert, dass er einen sicheren Arbeitsplatz hätte, und die Firma nicht beabsichtige, ihn zu ent-lassen.
Und Barz glaubte daran!
Das manipulierte Verhalten, die manipulierte Einstel-lung der Menschen, er durchschaute all das und er wusste, es waren Welten zwischen ihm und dem Le-ben im Kapitalismus, wo noch das kleinste Detail vor-gegeben, vorgeschrieben und fremdbestimmt ist. Und dann die Selbstherrlichkeit der Menschen! Das abso-lute Gegenteil dessen, wofür er stand, was ihn aus-machte. In seinem Leben gab es nicht das Ich, sondern immer das Wir — die Familie, die Verwandten, das gan-ze Dorf. Seine Persönlichkeit war geprägt von seiner Herkunft aus armen Familienverhältnissen, von der Immobilität eines der Tradition und dem Brauchtum verhafteten Dorfes, einer Erziehung, die gegenüber den Älteren und Fremden zu Respekt und Ehrerbie-tigkeit verpflichtet; höflich zurückhaltend, freundlich und respektvoll. Die Normen und Werte des Kapitalis-mus aber bedeuteten distanzierte, kühle Beziehungen zwischen den Menschen, Egoismus und Respektlosig-keit als Beleg eines guten Selbstbewusstseins, gren-zenlose Freizügigkeit als Zeichen der Freiheit, Respekt in Abhängigkeit von Berufsstand, Einkommen und Kleidung des Gegenübers. Zwei Welten: In der einen erstickt der Mensch im Kerker der dunklen Geister, im Brauchtum. In der anderen verdunstet der Mensch regelrecht in der Hitze des Kapitalismus und wird schließlich recycelt als Objekt des Kapitals.
Es bedurfte jahrelanger Diskussionen mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen inner- und außerhalb der Firma, bis er diese Mechanismen annähernd begriff. Trotzdem hielt er die guten zwischenmenschlichen Beziehungen für den Schlüssel aller Erfolge im Privat- und Arbeitsleben. Er spürte einen immer mehr erstarkenden Widerstand in sich, einen Widerstand gegen die neuen Werte der Globalisierung, deren Annahme er wie einen Verrat an sich selbst, wie die Aufgabe seiner eigenen Persönlichkeit empfunden haben würde.
5
Als würde er seinem Hobby nachgehen, begann Bergstein mit vollem Eifer an, die auf der Betriebsver-sammlung angekündigte Personalreduzierung umzu-setzen. Nach mehreren Verhandlungen mit dem Betriebsrat wurden ein zweistufiger Sozialplan und ein Interessenausgleich aufgestellt, in dem als Maßnah-men zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit die Verlagerung der Kabelproduktion – sie war sechs Jahre nach Abschluss des Sozialplanes immer noch nicht verlagert – und die (doch bereits abgelaufenen!) Auf-träge der Kunden Lucis, Kaito und Osada aufgeführt waren. Der neue, große Auftrag des Automobilher-stellers UVEC, der erst aber mehrere Monate später anlaufen sollte, wurde bei den Verhandlungen strikt geheim gehalten. „Diese Maßnahmen dienen dazu, dass von den 370 Stellen 60 zum 1. Juli 2001 entfallen.“
Die entlassenen Mitarbeiter, das waren überwiegend ältere über 50 und solche, die gesundheitlich ange-schlagen oder einfach unliebsam waren, wurden in einer Personalentwicklungsgesellschaft geparkt und bezogen von dort ein beziehungsweise zwei Jahre lang – je nach Alter des Arbeitnehmers - 80 % ihres bis-herigen Nettogehaltes. Diese Personen wurden weder weiter qualifiziert, noch wurden sie irgendwo beschäf-tigt, noch irgendwie betreut, noch wohin auch immer vermittelt. Die Personalentwicklungsgesellschaft, in der Praxis "Auffanggesellschaft" oder "Transfergesell-schaft" genannt, wurde vom entlassenden Unterneh-men und von den damaligen Arbeitsämtern finanziert, ohne dass jemand die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung, einer solchen Massenentlassung über-haupt prüfte. Ein Antrag des Arbeitgebers, der nicht hinterfragt wurde, reichte aus, und die Umsetzungs-maßnahme samt Zuwendung staatlicher Zuschüsse wurde genehmigt. Jedes Mal kam ein Beamter, ein gewisser Dieter Jordan, den Bergstein gut zu kennen schien, und beriet Bergstein. Sie trafen sich immer in einem Restaurant am Zoo. Bergstein bedankte sich jedes Mal mit einem dicken weißen Umschlag in einer dicken Stofftasche, die er dem anderen überreichte, nachdem er das Lokal mit seinen wandernden Blicken kontrolliert hatte.
So bezahlte der Staat den überwiegenden Teil der Massenentlassung. Nur für einen geringen Anteil kam der Betrieb auf. Der Staat hat auch die Folgen der Entlassung bezahlt. Firmen, die angeblich kriselten, wurden so nach einiger Zeit wieder kerngesund.
Brás zitierte immer wieder den Gesetzestext und lachte bitter über solche gesetzlich verankerte Betrügereien: „ Die Teilnahme von Arbeitnehmern, die aufgrund von Betriebsänderungen oder im Anschluss an die Beendigung eines Berufsausbildungsverhältnisses von Arbeitslosigkeit bedroht sind, an Transfer-maßnahmen wird gefördert, wenn die Maßnahme von einem Dritten durchgeführt wird, die vorgesehene Maßnahme der Eingliederung der Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt dienen soll, die Durchführung der Maßnahme gesichert ist und ein System zur Sicherung der Qualität angewendet wird. Transfermaßnahmen sind alle Maßnahmen zur Eingliederung von Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt, an deren Finanzierung sich Arbeitgeber angemessen (!) beteiligen. (…) Die Förderung wird als Zuschuss gewährt. Der Zuschuss beträgt 50 Prozent der aufzuwendenden Maßnah-mekosten, jedoch höchstens 2.500 Euro je gefördertem Arbeitnehmer.“
Читать дальше