Woran erkannte man wohl rechtzeitig, ob ein Mann zur Gewalttätigkeit und zum Suff neigte? Jette hatte erzählt, früher, als sie sich in ihn verliebt hatte, sei ihr Willy ganz anders gewesen, eine Seele von einem Mann. Richtig glücklich sei sie mit Willy gewesen. Nur der Schnaps habe ihn so kaputtgemacht.
Lisa, die die ganze Aufregung verschlafen hatte, seufzte leise im Schlaf, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich an sie. Clara lächelte und schlang den Arm um die Schwester. Lisas Haare kitzelten ihr in der Nase. Dennoch blieb sie so liegen. Es war schön, diese Nähe zu spüren. Wie es wohl wäre, eines Tages mit einem Mann im Bett zu liegen, einem Mann, der anders war als Willy? Auch anders als Franz. Der ging inzwischen fest mit Olga, die erzählte jeden Montag davon, was sie am Samstagabend und am Sonntag mit ihm erlebt hatte, und ließ nichts dabei aus, auch nicht, wo sie für ihn die Beine breit gemacht hatte und wie fest er hinlangte und wie oft er konnte und dass sie ganz wund sei. Wie anzüglich sie dabei lachte!
War die Liebe wirklich so – so roh und dreckig? Und ganz ohne Herz …
Nein, nicht an Franz und Olga denken! Auch nicht an Jette und Willy, nicht an die Hefte und die Polizei! Einfach an nichts. Sie döste wieder ein.
Irgendwann wurde sie ein zweites Mal von Geräuschen geweckt. Sie blinzelte. Die Mutter stand beim trüben Schein eines spärlich flackernden Talglichtes am Herd und hantierte. »Schon Zeit?«, murmelte Clara.
»Nein, schlaf weiter«, gab die Mutter halblaut zurück. »Ich mach nur einen Tee für den Vater, zum Glück ist das Wasser noch einigermaßen warm. Er hustet schon wieder wie ein Verrückter. Und Fieber hat er auch, unser Bett ist ganz nass geschwitzt. Wenn er nur am Montag wieder zu Arbeit kann!« Die Mutter seufzte sorgenvoll.
Schon wieder krank? Auch Clara seufzte. Der Vater war oft krank. Drei Wochen hatte er diesen Winter schon die Grippe gehabt und das Bett hüten müssen. Und in der ersten Woche gab es doch kein Krankengeld, und ab der zweiten dann auch nur die Hälfte vom Lohn – und sein Bier trank er ja trotzdem. An den Schulden, die sie in der Zeit gemacht hatten, zahlten sie immer noch ab. Wenn nun der Vater schon wieder nichts verdiente!
Am Ende kam die Mutter noch auf die Idee, sich Claras Erspartes aushändigen zu lassen?
»Was ist?«, fragte Lisa schlaftrunken und wollte sich aufrichten. Clara drückte die Schwester in die Kissen zurück. »Nichts. Schlaf weiter!« Aber sie selbst konnte nicht wieder einschlafen, auch als die Mutter längst gegangen war. Da lag sie nun am einzigen Tag in der Woche, an dem sie hätte ausschlafen können, wach und wartete darauf, dass es endlich Zeit würde aufzustehen.
B ald kam der Frühling. Im Winter musste sie den Weg im Dunkeln zurücklegen, sodass man meinte, es sei noch tiefste Nacht. Jetzt graute schon der Morgen.
Clara hastete. Die kalte Luft biss ihr in der Brust. Sie war viel zu spät von zu Hause weggekommen, die Mutter, ermüdet von einer durch das Husten und die Fieberträume des Vaters gestörten Nacht, hatte verschlafen und einen eigenen Wecker besaß Clara nicht. Nun lief sie gegen die Zeit an, beinahe rannte sie und wusste doch, dass es fast unmöglich war, noch rechtzeitig vor Torschluss die Fabrik zu erreichen. Hätte sie doch Geld, fünf Pfennige, damit sie die Straßenbahn nehmen könnte! Aber sie hatte nicht einen einzigen Pfennig einstecken. Ihr blieb nichts, als zu rennen, so schnell sie konnte. Wenn sie auch nur eine Minute zu spät kam, musste sie am Klingelzug läuten, um noch eingelassen zu werden, und dreißig Pfennige Lohnabzug wären ihr sicher.
Es wäre die Katastrophe – nun, da der Vater doch wieder krank war und im Bett bleiben musste. Bestimmt würde es Wochen dauern, bis er wieder auf die Beine kam. Wenn der Vater erst einmal krank war, erholte er sich schwer mit seiner angegriffenen Lunge.
Sie würden wieder Schulden beim Krämer machen müssen und die Mutter würde ihr die eine Mark für sich nicht lassen und ein Kleid rückte in weite Ferne. Sie wünschte sich doch so sehr ein neues Kleid, ein richtiges Sommerkleid, eines, mit dem sie zum Tanzen gehen konnte! Wenn sie schon nicht zum Tanzen in eine Wirtschaft durfte, so könnte Jenny sie doch wenigstens zum Tanzabend im Arbeiterverein mitnehmen. Und dagegen konnte doch nicht einmal der Vater etwas haben?
Aber ohne Kleid ging das nicht…
Sie rannte. Von der Garnisonskirche schlug es sechs. Alle Hetze und Anstrengung vergebens. Nach Luft ringend blieb Clara stehen und drückte sich die Hand in den vor Seitenstechen schmerzenden Leib. Jetzt war schon alles gleich – ob sie acht Minuten zu spät kam oder zehn, das machte keinen Unterschied mehr. Bis zu fünfzehn Minuten Verspätung war die gleiche Strafe angesetzt. Sie taumelte erschöpft gegen eine Hauswand, schloss kurz die Augen.
Langsam beruhigte sich ihr Atem, ließ das Stechen in ihrer Seite nach. Weiter. Sie öffnete die Augen. Da fiel ihr Blick auf den Zettel, der an der Toreinfahrt angebracht war: Druckerei Bruchmüller. Wir stellen ein Mädchen/eine Frau als Auflegerin ein. Arbeitszeit 10 Stunden täglich. Wochenlohn 9,50 Mark. Einstellung sofort.
Neun Mark fünfzig. Eine Mark und fünfzig mehr als sie zuletzt in der Spinnerei bekommen hatte, bevor die Kurzarbeit anfing. Und das für eine Stunde weniger Arbeitszeit! Dass die Drucker gut verdienten, wusste sie, in ihrem Haus wohnte einer, der konnte sich mehr leisten als jeder andere Arbeiter. Aber auch die Frauen! Was war eigentlich eine Auflegerin?
Neun Mark fünfzig. Letzte Woche hatte sie durch die Kurzarbeit mit den Abzügen und Strafgeldern mal gerade vier Mark sechsundvierzig verdient. Und diese Woche begann gleich mit dreißig Pfennigen Strafe. Vielleicht bekam sie am Wochenende nicht mehr als vier Mark heraus …
Sie starrte den Zettel an. Hoch und hart schlug ihr Herz. Sollte sie es wagen?
Was man als Auflegerin wohl machen musste? Schwerer als die Arbeit an einer Spinnmaschine konnte es doch auch nicht sein, oder?
Neun Mark fünfzig.
Sie presste die kalten Fäuste gegen das Gesicht. Wahrscheinlich war der Zettel alt und die Stelle längst vergeben. Aber er sah aus wie frisch geschrieben. Wenigstens kurz fragen, ob die Stelle noch frei war? Wenn sie sich beeilte, konnte sie trotzdem noch fünfzehn nach sechs in der Spinnerei sein …
Sie lief durch die Hauseinfahrt, kam in einen Hinterhof, sah das Schild über einer der beiden Türen zum Hinterhaus: Druckerei Bruchmüller. Warum brannte kein Licht, drang kein Laut heraus? Sie rüttelte an der Tür. Verschlossen.
»Die machen erst um sieben auf!«, rief ihr eine Stimme zu. Sie wandte sich um: Eine gebrechliche alte Frau, die sich ein graues Wolltuch über ihr Hemd geschlungen hatte, verließ eben die baufälligen Abortanlagen.
»Ich, ich wollte nur fragen, ob die Stelle noch frei ist«, stammelte Clara.
»Kontor ist vorne«, war die Antwort, damit verschwand die Frau durch die zweite Tür ins Hinterhaus.
In der Toreinfahrt war es dunkel, Clara konnte die Schilder nicht lesen, die dort an der Wand angebracht waren. Zwei Zugänge gab es ins Vorderhaus, einen rechts und einen links. Ratlos stand Clara vor der Tafel. Wenn hier nur jemand wäre, den sie fragen könnte! Sie hatte keine Zeit zu verlieren, sie müsste längst weiter. Da kam ein Bäckerjunge mit einem Leinensack voller Brötchen und strebte das rechte Treppenhaus an. »Wo ist das Kontor der Druckerei Bruchmüller?«, sprach sie ihn an.
»Unten links!«
Vier Stufen führten zu einem ersten Absatz im linken Treppenhaus hinauf. Eine Tür mit Klingelzug. Sie läutete. Wartete. Läutete. Wartete.
Sie hatte es ja geahnt, diese Stelle war nichts für sie. Nichts wie weg hier, zu ihrer Spinnerei! Da wusste sie wenigstens, dass sie Arbeit hatte, wenn auch nur Kurzarbeit und schlecht bezahlt.
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