Clara hatte noch niemals Gedichte gelesen, kannte nur die Gesangbuchverse und die schwülstigen Strophen, die sie in der Schule auswendig gelernt und nie verstanden hatte. Gedichte, hatte sie immer gedacht, das ist nur was für die besseren Leute. Doch dann diese Zeilen, auf die Erna mit dem Finger gezeigt hatte:
Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,
vom Hof her stampfte die Fabrik,
es war die richt' ge Mietskaserne
mit Flur- und Leiermannsmusik!
Im Keller nistete die Ratte,
parterre gabs Branntwein, Grog und Bier,
und bis ins fünfte Stockwerk hatte
das Vorstadtelend sein Quartier …
Sie hatte nicht gewusst, dass es solche Gedichte gab. Solche Worte, die von dem erzählten, was sie kannte, und die es doch weit über alles hinaushoben, was sie kannte:
Dort saß er nachts vor seinem Lichte
– duck nieder, nieder, wilder Hohn! –
und fieberte und schrieb Gedichte,
ein Träumer, ein verlorner Sohn!
Sein Stübchen konnte grade fassen
ein Tischchen und ein schmales Bett;
er war so arm und so verlassen,
wie jener Gott aus Nazareth!
Sie hatte die Verse auswendig gelernt, sie, für die das Auswendiglernen in der Schule immer nur eine mehr als lästige Pflicht gewesen war, hatte ihre Mittagspause darauf verwandt, ein Gedicht zu lernen! Nun versuchte sie es beim Nachhausegehen wieder aufzusagen, die dritte Strophe fiel ihr nicht ein, sie hatte sie auch nicht so richtig verstanden, doch die vierte wusste sie wieder:
In Fetzen hing ihm seine Bluse, sein Nachbar lieh ihm trocknes Brot, er aber stammelte: O Muse! und wusste nichts von seiner Not. Er saß nur still vor seinem Lichte, allnächtlich, wenn der Tag entflohn, und fieberte und schrieb Gedichte, ein Träumer, ein verlorner Sohn!
»Ein Träumer, ein verlorner Sohn«, flüsterte sie vor sich hin. Die Geschichte vom verlorenen Sohn kannte sie, im Religionsunterricht hatten sie sie lernen müssen: Der verlorene Sohn war aus reichem Haus und hatte sich sein Erbe auszahlen lassen, aber er hatte alles Geld durchgebracht und nun musste er Schweinefutter essen.
Ob auch dieser Dichter eigentlich aus reichem Haus war? Gebildet bestimmt, sonst könnte er ja nicht dichten. Aber trotzdem lebte er in Not und hatte eine zerrissene Bluse und wohnte in einer winzigen Kammer und konnte sich nicht einmal trockenes Brot kaufen. Und war glücklich bei alldem, weil er etwas Höheres hatte, wofür es sich zu leben lohnte.
Eine unbestimmte Sehnsucht erfasste sie. Hätte sie nur auch so etwas, was sie über das graue Einerlei hinausheben würde, sodass sie es gar nicht mehr spüren würde!
Sicher, da war der Wunsch nach einem Kleid und einem Tanzvergnügen. Aber sie spürte wohl, dass das nicht das Gleiche war wie das, wovon der Dichter dieser Verse sprach.
Johann Nietnagel hieß er. Sein Name hatte unter dem Gedicht gestanden. Er schreibe öfter für die Literaturzeitschrift, hatte Erna gesagt, aber sonst wusste auch Erna nichts über ihn.
Clara seufzte. Fast war ihr der Weg nach Hause zu kurz. Sie hätte gern noch ein paar Minuten gehabt, um an das Gedicht zu denken. Gleich würde sie der Mutter erklären müssen, warum sie später nach Hause kam als von ihrer Kurzarbeit, und wenn sie Pech hatte, erfuhr gar der Vater davon, dass sie die Fabrik gewechselt hatte.
Sie erreichte die Straße, in der sie wohnte, sah von Weitem ihren Häuserblock. Eine Frau mit Wäschekorb unter dem Arm stieg eben die Treppe zum Krämerladen hinunter, der im Keller des Vorderhauses ihrer Mietskaserne eingerichtet war, ein kleiner Junge lief hinter ihr her. Waren das nicht Jenny und Moritz? Ein paar Worte mit Jenny reden, das wäre gut.
Clara ging schneller, eilte in den Laden hinunter. Vor der Theke stand ein altes Dienstmädchen und kaufte ein. Hinten aber im Winkel des Kellers drehte Jenny die Wäschemangel. Stine lag auf dem Stapel ungebügelter Wäsche und schlief.
»Clara, schau her, was ich hab! Das hat mein Papa mir gemacht!« Moritz rannte ihr entgegen und zeigte ihr das grob geschnitzte kleine Holzpferd, das er in der Hand hielt.
»Wie schön!« Sie strich dem Jungen durch die Haare. »So ein schönes Pferdchen.« Ihr Vater hatte ihr nie irgendein Spielzeug geschnitzt.
»Stell dir vor, Jenny, ich hab die Fabrik gewechselt«, platzte sie dann heraus. Während sie der Freundin Laken und Handtücher zureichte, erzählte sie, was sie an diesem Tag erlebt hatte.
Wie erleichtert war sie, als Jenny sagte: »Das hast du gut gemacht!«
»Meinst du?«, fragte sie, um es noch einmal zu hören.
»Natürlich«, bestätigte die Ältere. »Was du in der Spinnerei verdient hast, war sowieso nur ein Schandlohn, und höher, als du warst, hättest du da auch nicht mehr kommen können. Nur die Männer können aufsteigen in die besseren Positionen, die Frauen bleiben ja doch immer bei den Hilfsarbeiten, ganz gleich, wie geschickt und tüchtig sie sind. Und dann auch noch Kurzarbeit und die ganzen Strafgelder! Gut so, dass du gegangen bist, das ist das einzige Recht und Mittel, das wir Arbeiterinnen haben: die Fabrik zu wechseln, wenn es uns zu bunt wird. Wenn deinem Fabrikherrn alle Arbeiterinnen wegbleiben würden, ja, dann würde er sich umschauen, aber bis die Frauen so viel Solidarität lernen, da fließt noch viel Wasser die Spree hinab.«
»Wie du das alles weißt«, meinte Clara bewundernd.
Die Freundin lachte. »Ich geh ja auch zu Versammlungen und in die Arbeiterinnenschule und ich les den Vorwärts und die Gleichheit und die Agitationsschriften für Frauen!«
»Und ich hab heut ein Gedicht gelesen«, erwiderte Clara. »Sogar auswendig gelernt. Ein Gedicht von Johann Nietnagel.« Sie sprach den Namen mit Andacht.
»Johann Nietnagel?«, wiederholte Jenny lebhaft. »Den kenn ich! Der wohnt ja bei mir im Haus.«
»Was? Wie? Das …« Clara kam ins Stottern. Ein richtiger Dichter bei ihnen in der Mietskaserne. Und nicht irgendeiner, sondern der Dichter dieses Gedichtes …
»Drei Stock über mir, unterm Dach«, erklärte Jenny nüchtern. »Im Winter erfriert er dort halb und im Sommer schmilzt er. Aber was will er machen, für mehr reicht sein Geld nicht und ein Zimmer mit anderen teilen, wie sollte er da dichten? Im Übrigen ist er ein guter Genosse, inzwischen. Ich kenn ihn noch aus der Zeit vom Sozialistengesetz. Manchmal putz ich ihm sein Zimmer, wenn's dort allzu arg aussieht, oder wasch was von ihm mit, wenn ich große Wäsche hab, und stopf es auch gleich, aus Freundschaft und alter Dankbarkeit sozusagen. Er hat mir mal aus der Patsche geholfen, als ich beinah erwischt worden wär beim Austeilen vom Sozialdemokrat, das vergess ich ihm nie. Damals war er noch ein besserer Herr, ein feiner Student. Jetzt ist er Sozi und macht Gedichte und schreibt für den Vorwärts. Aber viel Geld kriegt er dafür nicht, und deshalb verdient er sich auch noch manchmal was mit Adressenschreiben. Und von dem habt ihr ein Gedicht gedruckt?«
Clara nickte. Sie setzte zu einer Antwort an, verschluckte sich vor Aufregung. Kannst du ihn mir einmal zeigen?, wollte sie fragen und traute sich nicht. Wenn er das dann merkte, was sollte er von ihr denken! Und überhaupt, ein Dichter, was wüsste der schon mit ihr anzufangen.
Vorne im Laden wurde es laut. Eine klagende Stimme erhob sich: »Was soll ich denn machen, ich brauch doch Petroleum, ohne Licht kann ich ja keine Tüten mehr kleben! Und Sie bekommen alles zurück, ich zahl alles, ich schwör es Ihnen. Sobald ich erst meine Nähmaschine hab!«
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