Die Worte der Mutter waren wahr, sie konnte nichts dagegen einwenden. Aber dennoch sollte sie vielleicht noch einen Versuch unternehmen?
Sie wandte sich an ihren Vater: »Papa, bitte!«
Er hob die Hände. »Ich halte es mit dem Alten Fritz: Ich bin für Gewaltenteilung. Die Wohltätigkeit ist eindeutig das Ressort deiner Mutter, ich werde mich hüten, mich da einzumischen. Ich bin lediglich der Mittelgeber, und was ich gebe, das lege ich in ihre Hände. Dort ist es bestens aufgehoben.« Damit versenkte er sich wieder in seine Zeitung.
»Was den Text der Aufführung anbelangt«, wechselte die Mutter in einem Ton das Thema, dass Margarethe wusste, die Frage Anna Brettschneider war ein für alle Mal erledigt, »so sollten wir uns gelegentlich mit Frau La Fontière zusammensetzen. Ich fürchte, die Gute wird uns sonst ein unerträglich sentimentales Rührstück abliefern. Ja, was ist?«, wandte sie sich zu dem Diener um, der geräuschlos in den Raum getreten war und mit dezentem Hüsteln an der Tür des Wintergartens stehen blieb, in dem die Familie gelegentlich zu speisen pflegte, wenn man ganz unter sich war so wie heute.
»Hauptmann von Klaasen bittet darum, seine Aufwartung machen zu dürfen«, antwortete dieser.
»Hauptmann von Klaasen?«, wiederholte die Mutter lebhaft. »Wir lassen bitten!« Ein bedeutungsvoller Blick traf Margarethe.
Nicht auch das noch! Was soll ich tun, wenn er mir einen Antrag macht? Ein Ja schien ebenso unmöglich wie ein Nein.
Wenn sie Nein sagte, so würde sie ihn kränken. Mit Sicherheit würde er sie kein zweites Mal fragen, ein Klaasen hielt auf seine Ehre. Und eine Partie wie Hauptmann von Klaasen, von der jede junge Dame ihrer Kreise träumen würde, schlug man doch nicht aus!
Aber die Werbung annehmen, ohne Liebe …?
War das nicht Verrat? Verrat an ihm – Verrat an der Liebe – Verrat vielleicht sogar an sich selbst? Doch woher sollte sie wissen, ob nach ihm noch ein anderer kommen würde und vor allem: ein besserer! Fast die Hälfte der Damen der oberen Kreise blieb unvermählt. Sollte sie wirklich ewig dieses Leben weiterführen, wie sie es jetzt tat, diese ganze Nutzlosigkeit und Belanglosigkeit? Diese gähnende Langeweile? Papas hinreißende Tochter.
Hier eine Gesellschaft und dort eine Landpartie, hier die Oper, dort ein Ball, die Aufführung beim Wohltätigkeitsfest, ein bisschen lesen, ein bisschen musizieren, ein bisschen malen oder sticken und hinter dem allen das öde Nichts. Keine Aufgabe, kein Ziel.
Es gab keinen anderen Weg, ein sinnerfülltes Leben zu führen, als zu heiraten. Wie Maman ein großes Haus führen, in dem Künstler und Gelehrte ein und aus gingen, es zu einem Mittelpunkt der Gesellschaft machen. Und vor allem: eine eigene Familie haben, Kinder.
Das war die Aufgabe, die einzige. Mit Hauptmann von Klaasen rückte sie greifbar nahe. Sein Name war so klangvoll, dass es ein Leichtes sein würde, ihr Haus zu einem gesellschaftlichen Anziehungspunkt zu machen.
Das alles sprach für ein Ja auf den Antrag, der kommen würde, kommen musste. Wenn da nicht diese Furcht davor wäre, sich für alle Zeit zu binden – und womöglich an den Falschen. Dieses Gefühl, dass da noch etwas sein musste, etwas Wesentliches, was sie nicht kannte – und was sie mit Hauptmann von Klaasen niemals kennenlernen würde.
Liebe musste sich doch anders anfühlen als diese gewisse Vertrautheit, die sie dem Hauptmann gegenüber empfand. Liebe musste doch etwas so Mitreißendes sein, etwas so durch und durch Erfüllendes, dass es keine Zweifel mehr gab.
Ob ihm wirklich an ihr gelegen war – oder nur an ihrer Mitgift?
Verlass dich ganz auf dein Herz, hatte die Mutter geraten, als sie einmal mit ihr darüber gesprochen hatte, wie man denn den Richtigen erkennen könne. Es wird dir sagen, was richtig ist. Aber was sollte man tun, wenn das Herz schwieg? In ihren jungen Jahren hatte sie sich mehrfach schwärmerisch verliebt, war bald für den einen Offizier entflammt gewesen, bald für den anderen. Aber diese untrügliche Stimme des Herzens, das Dieser oder keiner hatte sie nie gehört.
Vielleicht hatte sie gar kein Herz. Und alles Warten würde vergebens sein, das, worauf sie wartete, würde niemals eintreten, und eines Tages würde sie unversehens eine alte Jungfer sein und kein Mann würde je mehr um ihre Hand anhalten.
Wahrscheinlich lag es an ihr.
Sie nahm kaum wahr, wie Hauptmann von Klaasen eintrat und sie alle begrüßte, reichte ihm mechanisch die Hand zum Kuss, beteiligte sich nicht an der höflichen Plauderei, die sich zwischen den Eltern und dem Hauptmann entspann. Obwohl sie die Augen niedergeschlagen hielt, spürte sie immer wieder seinen Blick auf sich – und den Blick der Mutter, der zwischen ihr und Hauptmann von Klaasen hin und her ging.
Schon nach wenigen Minuten erklärte der Vater, seine Geschäfte warteten auf ihn, und kaum war der Vater gegangen, erhob sich auch die Mutter und bedauerte, nicht weiter die angenehme Gesellschaft des Hauptmanns teilen zu können, weil sie dringend ein Musikstück einstudieren müsse, das sie am Abend zum Besten geben wolle. Höflich wollte auch er sich verabschieden, doch die Mutter hinderte ihn daran: Er möge doch mit Margarethes Konversation vorliebnehmen und möge sich nicht stören lassen, wenn sie nebenan ein wenig Klavier übe.
Margarethe stieg das Blut in den Kopf. Was für ein abgekartetes Spiel! Niemals sonst ließ die Mutter sie mit einem Herrn allein, und nun verschwand sie im Musiksaal und ließ die doppelflügelige Glastür nur gerade so viel offen, wie es der Anstand dringend erforderte.
Nebenan erklang Für Elise, ein Stück, das die Mutter auswendig zu spielen pflegte und auch in seinem schwierigeren Mittelteil völlig fehlerlos und im richtigen Tempo beherrschte. Diese schmachtenden Töne!
Der Hauptmann sah auf seine Hände, faltete sie ineinander, verknotete sie. Eine Welle von Sympathie stieg plötzlich in ihr auf. Offensichtlich war ihm die Situation genauso unangenehm wie ihr!
»Ich hatte schon lange vor, bei Ihnen vorstellig zu werden, Baronesse«, begann er zögernd.
Sie lächelte ihr strahlendstes Lächeln. »Ja, ich habe Sie erwartet. Wir müssen über unsere Darstellung bei dem Wohltätigkeitsfest sprechen, nicht wahr? Königin Luise und Napoleon. Johann Nietnagel steht ja nun glücklicherweise als Dichter nicht mehr zur Debatte. Aber wir sollten mit Ihrer werten Cousine ein wenig beraten, auf welche Art sie den Stoff zu fassen gedenkt. Was meinen Sie?«
»Gewiss, ja, das auch. Sie dürfen versichert sein, es ist mir eine große Freude und Ehre, mit Ihnen gemeinsam in diesem Stück auftreten zu dürfen.« Er stockte, fuhr schließlich fort: »Aber das Werk mit der Verfasserin abzusprechen, denke ich, kann ich ganz und gar Ihnen überlassen, Verehrteste. Sie wissen ja aus unseren Tischgesprächen: In Sachen Kunst und Literatur bin ich nicht so bewandert wie Sie.«
Sie neigte leicht den Kopf.
Er warf ihr einen tiefen Blick zu. »Ich bewundere sehr Ihre Bildung im Kulturellen. Ihr seelenvolles Klavierspiel. Ihre Schönheit. Ihren hinreißenden Charme. Dieses Unbeschwerte, Leichte, wenn ich es so nennen darf. In Ihrer Gegenwart, im Haus Ihrer Eltern, darf man den Ernst der Welt vergessen und fühlt sich emporgehoben zu den erhabeneren Dingen, tritt sozusagen ein in das Reich der Musen. Was für eine wohltuende Erholung für einen Mann des Militärs, der pflichtgetreu seinen Dienst für Kaiser und Vaterland tut und auf die Stunde seiner Bewährung wartet.«
»Eine Stunde, die hoffentlich nie eintritt«, gab sie zurück. »Die Künste gedeihen nun einmal nur im Frieden, und es bedarf solcher Männer, wie Sie einer sind, um diesen zu sichern.«
»Wie schön Sie das sagen«, erwiderte er. »Wenn Sie einmal einen eigenen Salon führen werden, wird er dem Ihrer verehrten Frau Mutter in nichts nachstehen.«
Читать дальше