»Ich kenne einen jungen Dichter, dem ich gerne einen Auftrag zukommen lassen würde«, warf die Mutter ein. »Ein gewisser Johann Nietnagel, den ich am nächsten Donnerstag in unserem Salon einführen werde.«
»Johann Nietnagel?«, wiederholte die Generalin. »Noch nie gehört. Aber ich verlasse mich ganz auf Sie, Verehrteste. Jede von uns weiß, wie sicher Ihr Gespür für die wahre Kunst ist und wie gut Sie sich in Künstlerkreisen auskennen. Wenn Sie Herrn Nietnagel für einen begabten jungen Mann halten, so gilt mir das als Beweis seines Könnens. Folglich wird er wohl dazu in der Lage sein, ein kleines Theaterstück zu reimen, das«, sie machte eine kunstvolle Pause und blickte Aufmerksamkeit fordernd in die Runde, »das Tilsiter Treffen unserer hochverehrten Königin Luise mit Kaiser Napoleon zum Thema hat.«
»Das ist ja geradezu genial!«, rief die Frau Geheimrat. »Die vielgeliebte Königin der Herzen, die Mutter des ersten deutschen Kaisers, in einer der schwersten Schicksalsstunden Preußens! Die Personifikation des edlen Mutes einer erhabenen Frau durch Darsteller zum Leben erweckt – natürlich müssen die Kulissen und die Kleidung ganz und gar getreu ausgeführt sein –, das wird Interesse erwecken. Und wenn Königin Luise und Napoleon dann plötzlich zu sprechen beginnen, zu agieren, einfach hinreißend!«
Frau Ministerialrat von Aubach warf ein: »Ich könnte das Bühnenbild malen. Nicht allein natürlich, aber meine Tochter Julia könnte mich dabei unterstützen. Sie ist in vielen Dingen sehr geschickt – und ich würde sie gerne hier im Kreis einführen, wenn es den Damen recht ist.«
»Wie schön«, stimmten die Mutter und die Generalin von Klaasen wie aus einem Mund zu. Frau Kommerzienrat Stolze aber, die neureiche Fabrikantengattin, die in diesem erlauchten Kreis selten den Mund zu öffnen wagte, vergaß ihre Scheu vor all den hochgeborenen Damen und rief aus: »Baronesse von Zug, dann müssen Sie unbedingt die preußische Königin darstellen! Sie haben eine gewisse Typähnlichkeit mit ihr, wenn ich das so sagen darf, die Haarfarbe, die hohe, schlanke Gestalt, den Liebreiz. Und dieses unverkennbar Edle.«
»Sie sprechen mir aus dem Mund«, bestätigte die Generalin leicht süffisant. »Sie werden sich erinnern, dass ich von Anfang an sagte, mein Plan habe mit der Baronesse zu tun.«
Frau Stolze wurde sichtbar kleiner.
»Werden Sie es tun, meine Liebe?«, wandte sich die Generalin an Margarethe.
Diese lächelte zustimmend. »Warum nicht!« So ein paar Reime aufzusagen, sollte wohl möglich sein, und sich in königliche Pose zu stellen und betrachten zu lassen, erst recht. Sie wusste um ihre Wirkung – und sie musste zugeben, dass sie geheimen Gefallen daran fand, bewundert zu werden. »Wenn Sie meinen, dass wir dadurch die Spendenfreudigkeit des Publikums anregen können?«
»Aber mit Sicherheit«, erwiderte ihre Mutter. Die Begeisterung hatte ihre Kühle vertrieben. »Ich stelle mir vor, dass du dann als Königin Luise an der Hand Napoleons mit einem Körbchen durch die Reihen gehst und jeden Herrn persönlich ansprichst. Den Herrn möchte ich sehen, der für die hochverehrte, geliebte preußische Königin nicht anständig seine Geldtasche zückt! Es ist also beschlossene Sache?«
Ringsum wurde eifrig genickt.
»Fragt sich nur: Wer gibt den Napoleon?«, fragte Frau Geheimrat von Hörrach. »Die Herren sind im Allgemeinen nicht so leicht zu solcherlei Darbietungen zu gewinnen.«
»Nun«, meinte Frau General von Klaasen und lächelte zufrieden, »das lassen Sie meine Sorge sein! Ich denke, es ist klar, wer am besten für diese Rolle in Frage kommt: mein älterer Sohn.« Und dann fügte sie mit einem Anflug von Ironie hinzu: »Er hat die richtige Statur.«
Das ist es also, dachte Margarethe. Dazu hat sie das alles eingefädelt. Damit wir uns bei den Proben näherkommen, Hauptmann von Klaasen und ich. Wahrscheinlich wartet sie darauf, dass wir spätestens nach der Vorstellung unsere Verlobung bekannt geben.
Auf einmal kam sie sich vor wie ein gefangener Vogel.
»Doch pfiff auch dreist die feile Dirne,
die Welt, ihn aus: Er ist verrückt!
Ihm hatte leuchtend auf die Stirne
der Genius seinen Kuss gedrückt.
Und wenn vom holden Wahnsinn trunken,
er zitternd Vers an Vers gereiht,
dann schien auf ewig ihm versunken
die Welt und ihre Nüchternheit.
In Fetzen hing ihm seine Bluse,
sein Nachbar lieh ihm trocknes Brot,
er aber stammelte: O Muse!,
und wusste nichts von seiner Not …«
Er schreibt über sich selbst, dachte Margarethe und beobachtete die schmale Gestalt Johann Nietnagels, der da vorn im Musiksaal in seinem schäbigen Leihhausfrack stand und der versammelten Gesellschaft seine Gedichte vortrug. Wie angenehm dieser Hauch von Selbstironie ist …
Unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen wie dieser Dichter da. So weit zu kommen, dass es einem nichts mehr ausmacht, wenn die ganze Welt einen für verrückt erklärt …
Nein, das war ihr unvorstellbar.
Eine Frau stand und fiel mit dem Ruf, den sie in der Welt hatte. Gab es sie überhaupt hinter diesem Ruf? War sie selbst mehr als das, was sie schien, mehr als eine charmante junge Dame der besten Gesellschaft? Hatte sie eine Essenz, ein unaustauschbares Inneres?
Manchmal meinte sie es zu spüren. Doch wenn sie danach greifen wollte, entglitt es ihr. Nur die Sehnsucht war da, vage, unbestimmt.
Was bliebe von ihr, wenn ihr alles genommen würde, was sie scheinbar ausmachte: ihre Kleider, ihr Schmuck, ihr gepflegtes Äußeres, ihre Umgebung – die Herkunft aus hohem Haus, die Tochter eines Reichstagsabgeordneten, die umworbene Erbin mit glänzender Mitgift und klangvollem Namen?
Johann Nietnagel hatte alles aufgegeben, was ihn einmal äußerlich ausgemacht hatte, und folgte seiner inneren Stimme. Sohn eines Juristen, eines Bürgermeisters solle er sein, hatte Maman gesagt, Literatur und Philosophie studiert haben. Er hätte eine gesicherte Existenz als Gymnasialprofessor haben können – wenn er sich nicht ganz der Muse geweiht hätte. Maman fand das interessant. Papa dumm. Und sie?
»… ein Träumer, ein verlorner Sohn!«, beendete Johann Nietnagel seinen Vortrag.
Wohlwollender Applaus. »Naturalismus in reinster Ausgestaltung«, hörte Margarethe ihre vor ihr sitzende Mutter in bedeutungsvollem Ton Frau Doktor Schneider zuflüstern, der Gattin des Hausarztes. Diese nickte mit Kennermiene.
Der Dichter blätterte in seinem Manuskript, nahm eine neue Seite zur Hand. »Ein Bild«, verkündete er und begann mit seinen Versen tatsächlich vor Margarethes innerem Auge ein Bild entstehen zu lassen: eine reiche Villa, wie sie hier in der Nachbarschaft im Westend zu stehen schien, doch dunkel verhangen, jeder Ton erstickt, die Dienerschaft um völlige Lautlosigkeit bemüht. Ein Todesfall in der Familie?, fragte sie sich, mehr und mehr in den Bann des Gedichtes, in den Bann dieser suggestiven, das unverkennbar Tragische untermalenden Stimme gezogen:
»Der hochgeborne Hausherr, Exzellenz,
schwankt wie ein Rohr umher auf bleicher Düne,
die erste Redekraft des Parlaments
fehlt heute abermals auf der Tribüne …«
War das nicht Papa?
»… schon viermal war der greise Hausarzt da
und meinte, dass es sehr bedenklich stünde.«
Doch dann auf einmal änderte sich der Ton der Stimme, nahm etwas Ironisch-Distanziertes an:
»Nach Eis und Himbeer wird sehr oft geschellt,
doch mäuschenstill ist es im Krankenzimmer …«
Sie wandte keinen Blick mehr von diesem jungen Mann dort vorn, der unverkennbar spöttische Zug um seinen Mund, wie er immer weiter die Atmosphäre des Hauses beschrieb, das ob des Geschehens im Krankenzimmer den Atem anhielt. Doch nein, in seinen Augen blitzte nicht nur der Spott, das war etwas Heißeres:
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